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Und wenn das Volk nicht immer Recht hat?

Die Verhältnismässigkeit ist ein Eckpfeiler des Rechtstaats. akg-images.de

In den letzten Jahren kamen immer wieder Volksinitiativen zur Abstimmungen, die Zweifel über deren Umsetzung aufkommen liessen. Die jüngste ist jene über die Pädophilie. Auf dem Spiel steht nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch das Vertrauen der Bürger in die Institutionen.

«Alle sind damit einverstanden, dass Pädophile nicht mit Kindern Kontakt haben dürfen. Das Problem liegt anderswo: Die Initiative verfügt ein automatisches und unwiderrufliches Berufsverbot für jene, die wegen Pädophilie verurteilt wurden. Es steht im Widerspruch zum Prinzip der Verhältnismässigkeit, ein Pfeiler der helvetischen Verfassung.»

Claude Rouiller, ehemaliger Bundesrichter erklärt: Die vom Verein Marche Blanche lancierte Initiative, die am 18. Mai vom Schweizer Stimmvolk angenommen wurde, stelle ein echtes Problem dar bei deren Umsetzung und Kohärenz innerhalb der Prinzipien der Verfassung, «die wie ein menschlicher Körper in allen Teilen ausgewogen sein muss».

«Um die Verhältnismässigkeit zu garantieren, müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden: einerseits der Schutz der Personen – auf dem jeder demokratische Staat basiert – und andererseits die Wahrung der Ordnung», erklärt Claude Rouiller. Mit anderen Worten, die angewendeten Mittel müssen mit dem Ziel in Einklang stehen, in diesem Fall mit dem Schutz des Kindes. «Meiner Meinung nach ist also jeder Automatismus, der den Richtern keinen Spielraum für eine Berücksichtigung des Zusammenhangs oder Grads der Schuld erlaubt, per se unverhältnismässig.»

Der Ex-Bundesrichter sieht auch im unwiderruflichen Berufsverbot, das die Initiative verlangt, ein Problem. «Es ist unmöglich und ungerecht, von vornherein festzulegen, auch wenn Wut und Angst legitim sind, dass eine Person, die einen Gesetzesverstoss begangen hat, niemals behandelt werden könnte. Es gibt Studien, die aufzeigen, dass eine bestimmte Art von Pädophilie geheilt werden kann.»

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«Nulltoleranz» mit pädophilen Straftätern

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Wer pädophil veranlagt ist, bleibt es ein Leben lang. Für Christine Bussat, die Gründerin der Organisation Marche Blanche und die Befürworter ihrer Initiative ist deshalb klar: Es braucht eine harte Linie, ein automatisches und lebenslängliches Berufs- und Tätigkeitsverbot für alle, die verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes oder einer abhängigen Person beeinträchtigt…

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Wie gewichten?

Wie Claude Rouiller haben Gegner der Initiative im Vorfeld der Abstimmung vor dem Risiko gewarnt, dass der Rechtsstaat verletzt werden könnte. Ein gewichtiges Argument, das allerdings nicht leicht «zu verkaufen» ist. Dies auch, weil sich die Rechtsexperten nicht einig sind.

Paolo Bernasconi, Anwalt und ehemaliger Tessiner Staatsanwalt, verteidigte die Vorlage von Marche Blanche und ist überzeugt, dass das Prinzip der Verhältnismässigkeit nicht in Gefahr sei. «Ein verurteilter Pädophiler wird lediglich in der Freiheit eingeschränkt, unter einer Reihe von Berufen auswählen zu können. Und dies scheint mir eine ziemlich geringe Einschränkung der Rechte hinsichtlich des Ziels, Kinder und abhängige Personen vor pädophilen Übergriffen zu schützen», sagte der designierte Präsident von Marche Blanche.

Hinzu kommt, dass das Berufsverbot auch im revidierten Strafrecht festgeschrieben ist, das letzten Herbst vom Parlament verabschiedet wurde. Dabei erfolgt das Berufsverbot aber nicht automatisch, sondern wird von den Richtern von Fall zu Fall entschieden.

Nach Ansicht von Bernasconi ist der Automatismus jedoch nötig. «Die Möglichkeit, die Ausübung gewisser Berufe zu verbieten, ist in der Tat bereits seit 1942 im Strafrecht verankert. Sie wurde von den Richtern jedoch kaum angewendet. Die Gesetzgeber mussten eingreifen. Dabei handelt es sich nicht um ein Misstrauensvotum gegenüber den Richtern, sondern um eine spezifische Massnahme, die auf eine legitime Besorgnis antwortet und mit dem Argument der Prävention und dem Schutz der Gesellschaft gerechtfertigt werden kann.»

Unverhandelbare Menschenrechte

Landesrecht sei vor Völkerrecht zu stellen, dies fordern immer mehr politische Akteure in der Schweiz, und auch die Kündigung der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) steht zur Debatte.

Welche Folgen dies oder die Nichtbeachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in Strassburg für die Schweiz hätte, hat der Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte untersucht, der Staats- und Verfassungsrechtler Walter Kälin.

Für ihn ist klar: Entweder hält die Schweiz die Menschenrechts-Konvention ein und setzt Urteile des Strassburger Gerichtshofs um oder sie kündigt die Konvention und tritt aus dem Europarat aus. Dazwischen gebe es nichts, so Kälin.

Die Menschenrechte würden – falls es zu einer Kündigung der Konvention käme – zwar trotzdem weitestgehend eingehalten, sagt Kälin, weil «das schweizerische Recht meist deckungsgleich ist mit der EMRK». Die Nichteinhaltung gewisser Fälle oder Fallgruppen durch die Schweiz hätte hingegen langwierige Auseinandersetzung mit den Organen des Europarates zur Folge.

Die Studie wurde am 15. Mai 2014 publiziert.

(Quelle: sda)

Vertrauen in Institution steht auf dem Spiel 

Die politische Debatte war in den letzten Jahren oft von juristischen Argumenten geprägt, die in der Bevölkerung bisweilen eine gewisse Konfusion auslöste. Die Bürger wurden mit kontroversen Initiativen konfrontiert, die bei der Umsetzung zu Problemen führte. So geschehen etwa bei der Initiative über eine lebenslange Verwahrung von extrem gefährlichen Sexual- und Gewaltstraftätern, die 2004 passierte, oder bei jener zur Ausschaffung krimineller Ausländer, die 2010 vom Stimmvolk angenommen wurde, über deren Umsetzung im Parlament jedoch noch immer debattiert wird.

«Gesetzgeber und Juristen stehen vor einer paradoxen Situation: Einerseits müssen sie den Volkswillen akzeptieren,  und auf der anderen Seite gilt es die Prinzipien des Rechtsstaats zu wahren», betont Heinrich Koller, Professor für öffentliches Recht und ehemaliger Direktor des Bundesamts für Justiz. Ein Balanceakt, der die Juristen manchmal dazu zwingt, «interpretieren» zu müssen, was das Volk verlangte, oder auf höhere Gerichte, wie jenes in Strassburg, zu reagieren.

Laut Koller besteht längerfristig das Risiko, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die eigenen Institutionen abnimmt. «Wenn die Bevölkerung den Eindruck bekommt, ihr Wille werde bei der Umsetzung des Gesetzes nicht geachtet, dann macht es ihr logischerweise immer mehr Mühe, den Handlungen von Regierung, Parlament und Gericht zu vertrauen.»

Ein Teil der Verantwortung ist gemäss Koller jedoch den Politikern selbst zuzuschreiben, denen es nicht gelingt, «das Volk von der Irrationalität gewisser Initiativen und von der Unmöglichkeit deren Umsetzung zu überzeugen. Sie entfernen sich von den Bürgern und sind nicht mehr imstande, ihnen  die fundamentalen Werte unserer Verfassung und des Rechtsstaates zu erklären».

Die Grenzen der direkten Demokratie

Ex-Bundesrichter Claude Rouillier kommt zu einem anderen Schluss: «Die Tatsache, dass diese absolutistischen Initiativen systematisch lanciert werden, bringt mich dazu, mich zu fragen, ob diese nicht darauf aus sind, unsere Institutionen zu schwächen. Und das macht mir Angst. Ich habe den Eindruck, dass wir auf ein Dogma zusteuern, wonach das Volk immer Recht habe. Das ist aber nicht der Fall. Wenn wir das Volk die Tragfähigkeit des Rechts definieren lassen, riskieren wir ein dirigistisches oder autoritäres System, das Gegenteil einer Demokratie. Und das ist unannehmbar.»

Auch Anwalt Bernasconi gibt sich besorgt über eine mögliche Abkehr von der direkten Demokratie, obwohl er hinter der Vorlage von Marche Blanche steht. «Einige Initiativen geben vor, wichtige Probleme mit einfachen Mitteln zu lösen, welche die ganze Komplexität von Normen nicht berücksichtigen, die das Zusammenleben in unserem Land steuern. Man müsste eine Art Gericht einführen, das völlig neutral und unparteiisch wäre, das beauftragt wäre, nicht die gute oder schlechte Grundlage der Initiative zu überprüfen, sondern deren Verfassungsmässigkeit.»

In den letzten Jahren wurde immer wieder moniert, es brauche ein Kontrollsystem für Bundesgesetze und vor allem für Initiativen, welche verfassungswidrig sein könnten oder internationales Recht verletzen könnten, wie zum Beispiel die Europäische Menschenrechts-Konvention (EMRK). Aber wem steht diese Aufgabe zu? Dem Parlament? Den Richtern? Die politischen Parteien scheinen in dieser Frage zur Zeit von einer Lösung noch weit entfernt zu sein.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)

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