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Sind Gemeindeversammlungen noch zeitgemäss?

Hochbrisanter Inhalt, volle Turnhalle: Die Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde Wolfenschiessen im Kanton Nidwalden beraten 1994 über ein geplantes Endlager für radioaktive Abfälle im Wellenberg. Seit 1987 sagten sie wiederholt Nein zum Projekt, das erst 2015 beerdigt wurde. Keystone

Schule, Ortsplanung, Wasserversorgung, Steuerfuss: Nirgends in der föderalistischen Schweiz ist Politik näher bei den Bürgerinnen und Bürgern auf Stufe der rund 2350 Gemeinden. Die Teilnahme an Gemeindeversammlungen aber ist seit Jahrzehnten rückläufig. Dennoch gibt es keinen Trend hin zu Gemeindeparlamenten, stellt der Politikwissenschaftler Andreas Ladner in seiner jüngsten Forschung* fest.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

In vier von fünf Schweizer Gemeinden ist es die Gemeindeversammlung, an der die Bürger über lokale politische Geschäfte entscheiden. Doch immer weniger Stimmbürgerinnen und -bürger gehen überhaupt hin. Junge und Neuzugezogene sind besonders untervertreten. Westschweizer und Tessiner Gemeinden setzen grösstenteils auf lokale Parlamente. In der Deutschschweiz ist hingegen kein Trend in diese Richtung zu erkennen.

Ganz ähnlich wie an den weltbekannten Landsgemeinden in den Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Glarus entscheiden auch in vier von fünf Schweizer Gemeinden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über den Grossteil ihrer politischen Geschäfte an einer Versammlung. 

Andreas Ladner ist Professor am Institut für öffentliche Verwaltung der Universität Lausanne (IDHEAP). Keystone Archive

In den restlichen Gemeinden, vor allem in der Westschweiz und in den Städten, tritt anstelle der Versammlung ein lokales Parlament. Nur ganz wenige Gemeinden kennen weder Versammlung noch Parlament und erledigen sämtliche Geschäfte an der Urne, oder haben sowohl eine Versammlung wie auch ein Parlament.

Insgesamt werden in der Schweiz pro Jahr schätzungsweise gegen 4000 solche Versammlungen durchgeführt, welche von rund 300’000 Personen besucht werden. Die Beteiligungszahlen für die einzelnen Versammlungen sind jedoch weniger erfreulich. Sie sinken von etwas mehr als 20% in den kleinsten Gemeinden auf ein paar wenige Prozente in den grössten Gemeinden. In den letzten 30 Jahren sind sie zudem konstant rückläufig.

Gesamtschweizerisch werden für etwas mehr als der Hälfte der Bevölkerung lokale Geschäfte im Versammlungssystem entschieden. Wer diese Versammlungen besucht und wie sie verlaufen, ist erstaunlicherweise wenig bekannt. Zu einer medial breiteren Berichterstattung kommt es nur in Ausnahmefällen, beispielsweise wenn es um grosse Landgeschäfte oder den Bau von umstrittenen Infrastruktur- oder Tourismusanlagen geht, welche die ganze Gemeinde in Aufruhr versetzen.

Wer nimmt an Gemeindeversammlungen teil?

Hinsichtlich der Repräsentativität der an den Gemeindeversammlungen anwesend und über die Geschicke der Gemeinde bestimmenden Bürgerinnen und Bürger bestätigt sich die anekdotische Evidenz von der Dominanz der Alteingesessenen und der älteren Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Untervertreten sind gemäss unserer Erhebung vor allem die jüngeren Einwohnerinnen und Einwohner.


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Die schwache Beteiligung der Jungen erstaunt wenig, da ihre Teilnahmewerte auch bei Abstimmungen und Wahlen deutlich tiefer liegen. Zu erstaunen vermag allenfalls, dass es kaum Gemeinden gibt, in denen die Jungen nicht untervertreten sind. Ebenfalls sehr häufig untervertreten sind Neuzugezogene. Häufiger untervertreten als übervertreten, aber immerhin noch in der Mehrheit der Gemeinden angemessen vertreten, sind Frauen, Personen mit hohem Bildungsgrad und höherem Einkommen, Gewerbetreibende, Landwirte, Parteimitglieder und Vereinsmitglieder.

In einem etwas grösseren Teil der Gemeinden übervertreten sind schliesslich die älteren Personen, Hauseigentümer und Alteingesessene. Der Graben zwischen den Alteingesessenen und den Neuzugezogen verschärft sich zudem mit zunehmender Gemeindegrösse.

Kleinste politische Einheit im Schweizer Politsystem

Das politische System der Schweiz ist in die drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden gegliedert.

Die horizontale Machtteilung geht aus dem Prinzip des Föderalismus hervor.

In diesem System sind die Gemeinden in der Schweiz in gewissen Bereichen autonom. Oberstes Organ der Gemeinden ist die Gemeindeversammlung oder das Gemeindeparlament.

1990 gab es noch 3021 Gemeinden, Anfang 2014 waren es noch 2352. 

In der Schweiz finden jährlich rund 4000 Gemeindeversammlungen mit rund 300’000 Teilnehmenden statt (Schätzung).

Die Beteiligung ist seit 30 Jahren rückläufig: In kleinen Gemeinden beträgt sie heute noch gut 20%, in den grössten Gemeinden nur wenige Prozente.

Ganz ähnlich lässt sich auch zeigen, dass die Untervertretung der Jugendlichen und der Frauen mit der Gemeindegrösse eher zunimmt. Die Gründe dafür lassen sich aus den Daten nicht herauslesen. 

Eine höhere Bildung wird häufig als eine der zentralen Variablen zur Förderung der Wahl- und Abstimmungsteilnahme genannt. Interessanterweise scheint dies bei der Versammlungsdemokratie nicht zwingend der Fall zu sein. Besser Gebildete sind, folgt man der Einschätzung der Gemeindeschreiber, angemessen vertreten oder in ein paar wenigen Gemeinden leicht untervertreten, und dieses Muster bleibt über sämtliche Gemeindegrössenkategorien hinweg ziemlich konstant.

Wird diskutiert und gestritten?

Sicher falsch ist die Vorstellung, dass an den Gemeindeversammlungen alle miteinander diskutieren und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Fast könnte man sagen, dass es sich auch hier vielmehr um einen quasi Parlamentsbetrieb handelt, bei dem lediglich die Fraktionssprecher das Wort ergreifen. Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass es für Aussenstehende nicht immer ganz klar ist, welche Interessen und politischen Vorstellungen hinter den Wortmeldungen stecken.

Man kann jedoch auch nicht behaupten, dass an der Gemeindeversammlung keine Politik gemacht wird oder dass hier lediglich den Anträgen der Gemeindeexekutive zugestimmt wird. Es gibt keine Gemeinde, in der es an den Gemeindeversammlungen nie zu Wortmeldungen kommt (vgl. Abbildung 2).

Und es kommt in zwischen 80 und 90% der Versammlungsgemeinden, wenn auch nicht sehr häufig, zu knappen Entscheidungen, unerwarteten Ergebnissen und zur Ablehnung von Anträge der Gemeindeexekutive. Noch etwas häufiger kommt es zu Versuchen von Vereinen, Parteien und Interessengruppen, durch die Mobilisierung ihrer Anhänger die Entscheidungen der Versammlung zu ihren Gunsten zu beeinflussen.Insgesamt zeigen unsere Resultate, dass es vor allem in Gemeinden mit mehr als 10‘000 Einwohnern häufiger zu animierten Versammlungen kommt. 

Legitimität am Bröckeln

Gemeindeversammlungen als Urform der Demokratie geniessen auch heute noch eine grosse Popularität. Die tiefen und rückläufigen Besucherzahlen lassen jedoch an der Legitimität der an ihnen gefällten Entscheidungen Zweifel aufkommen. Dennoch ist – zumindest in der Deutschschweiz – kein Trend Richtung Gemeindeparlamente zu erkennen.

Trotz Bevölkerungswachstum und Gemeindefusionen hat sich die Zahl der Gemeindeparlamente kaum erhöht, was die Bedeutung dieser Form der direktdemokratischen Mitwirkung untermauert.

Angesichts der teilweise gerechtfertigten Einwände bezüglich ihrer Demokratietauglichkeit in einer sich wandelnden Gesellschaft, gilt es sicherzustellen, dass Gemeindeversammlungen gewisse Mindestanforderungen erfüllen. Eine grosse Mehrheit der Versammlungsgemeinden (rund 90%) sehen bereits heute die Möglichkeit vor, dass über heikle Themen geheim abgestimmt werden kann.

In knapp der Hälfte der Gemeinden kann zu einem Entscheid der Gemeindeversammlung auch eine Urnenabstimmung beantragt werden, sei diese direkt an der Versammlung, bevor der Entscheid gefällt wird, oder nach der Versammlung im Sinne eines «Referendums» gegen den Versammlungsentscheid.

Solche Vorkehrungen garantieren, dass die an der Gemeindeversammlungen gefällten Entscheidungen nicht zu einer Diktatur einer kleinen lokalen Minderheit verkommen und die Gemeindeversammlung als Institution zum Fällen von breit abgestützten und legitimierten lokalpolitischen Entscheidungen beibehalten werden kann.

Gemeindegrösse und Gemeindeparlament

Im Hinblick auf eine Gemeindefusion – die ja teilweise zu einer deutlichen Vergrösserung der Einwohnerzahlen führt – stellt sich immer wieder auch die Frage, ob es für die neue Gemeinde nicht angezeigt wäre, von einem Versammlungssystem zu einem System mit Gemeindeparlament zu wechseln.

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Der Blick auf die Gemeinden mit Gemeindeparlament in der Schweiz und die Entwicklung über die letzten Jahre hinweg zeigt jedoch, dass auch sehr grosse Gemeinden noch an einem Versammlungssystem festhalten und dass Fusionen nicht zwingend zu mehr Gemeindeparlamenten geführt haben. Ob Gemeindeversammlung oder Gemeindeparlament ist zuerst einmal eine Frage demokratietheoretischer Präferenzen.

In der Westschweiz und im Tessin dominiert eindeutig das Parlamentssystem. In den Kantonen Genf und Neuenburg haben alle Gemeinden ein lokales Parlament und im Waadtland und im Tessin gibt es keine Gemeinden mit mehr als 1000 Einwohnern, die kein Parlament haben (vgl. Abbildung 3).

In den Kantonen Freiburg, Bern, Jura und Wallis wechseln bereits mittelgrosse Gemeinden zu einem Parlament. In den übrigen Deutschschweizer Kantonen wird ab einer Grösse von 10’000 Einwohnern die Einführung eines Gemeindeparlaments diskutiert. Besonders zurückhaltend diesbezüglich ist man im Kanton Zürich, wo in etwa der Hälfte der rund 30 Gemeinden mit über 10’000 Einwohnern noch das Versammlungssystem existiert.

Dieser gekürzte Beitrag erschien zuerst am 21. Juli 2016 auf DeFactoExterner Link, der Schweizer Plattform für Politikwissenschaft.

 

Ladner, Andreas (2016). Gemeindeversammlung und Gemeindeparlament. Überlegungen und empirische Befunde zur Ausgestaltung der Legislativfunktion in den Schweizer Gemeinden. Lausanne: Cahier de l’IDHEAP Nr. 292. ISBN 978-2-940390-79-3.

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