Türkei – vom Traum der Demokratie zum Alptraum
Es herrscht dicke Luft zwischen der Schweiz und der Türkei: Grund ist die direkte Demokratie. Genauer: der Umgang mit der direkten Demokratie. Denn damit diese funktioniert, braucht sie u. a. die Meinungsäusserungsfreiheit wie der Mensch die Luft zum Atmen. Eine Betrachtung in fünf Abschnitten im Vorfeld von Erdogans Verfassungsreferendum.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
1. Die Abstimmung: Am 16. April 2017 sind 55 Millionen Türkinnen und Türken aufgerufen, über die künftige Machtfülle des Präsidenten abzustimmen. Die vom jetzigen konservativen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan (Regierungschef seit 2003, Staatschef seit 2014) eingebrachte Verfassungsreform, würde ihm weitreichende und alleinige Machtbefugnisse verleihen und die Herrschaft bis 2029 ermöglichen.
Laut jüngsten Meinungsumfragen steht das Resultat auf der Kippe. Seit der Verabschiedung der geltenden Verfassung vor 35 Jahren (durch eine von der damaligen Militärjunta manipulierten Volksabstimmung) hat die Türkei fünf Mal über eine Reform des Grundgesetzes abgestimmt.
2. Die dicke Luft: Auch in der Schweiz konnten gegen 100’000 stimmberechtigte Auslandtürken (von denen viele auch einen Schweizer Pass haben) ihre Stimmen abgeben. Dabei kam es zu Versuchen der türkischen Behörden, die Meinungsfreiheit für die türkische Diaspora in der Schweiz indirekt einzuschränken. Etwa, in dem Abstimmungspodien, an denen Aktivisten für ein «Hayir» (Nein zur Reform) warben, bespitzelt wurden.
Ende März erklärte der Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu bei dessen Besuch in Bern deshalb klipp und klar: «Die Schweiz anerkennt die Meinungsäusserungsfreiheit als allgemein gültiges Grundrecht. Sie hofft, dass dieses Recht auch für die Türkinnen und Türken gilt, ob sie nun in ihrer Heimat oder in der Schweiz abstimmen.»
Cavusoglu hatte dagegen wenig einzuwenden, erhielt jedoch wenige Tage später einen Steilpass durch Demonstranten in Bern zugespielt, die auf einem Plakat dazu aufriefen, den türkischen Präsidenten «mit den eigenen Waffen zu töten».
3. Schauplatz Istanbul, 1985: Ich besuchte die grösste türkische Stadt zum ersten Mal vor 32 Jahren. Die Metropole am Bosporus, der Meeresstrasse zwischen Europa und Asien, hinterliess einen chaotischen und ärmlichen Eindruck. Fünf Jahre nach dem dritten Militärputsch in der Geschichte der 1923 ausgerufenen Republik hatten die Streitkräfte die Stadt und das Land fest im Griff. In zahlreichen Schauprozessen hatten Kritiker der undemokratischen Ordnung – Professoren, Journalisten, Richter –»ihre verdiente Strafe» erhalten, wie Generalstabschef Kenan Evren gesagt hatte. Denn, so der hohe Militär: «Es waren Vaterlandsverräter, welche die demokratische Ordnung und die Einheit des Vaterlandes zerstören wollten».
Aber trotz aller Unterdrückung spürte ich an vielen Orten der Millionenstadt – wo die Wasserversorgung nur wenige Stunden pro Tag und Haushalt funktionierte – auch Hoffnung. «Ich bin überzeugt davon, dass wir hier bald in einem freiheitlichen, demokratischen und europäischen Vielvölkerstaat friedlich zusammenleben können», sagte mir eine junge Studentin am Institut für Politikwissenschaften der 1454 gegründeten İstanbul Üniversitesi.
4. Schauplatz Istanbul, 2016: Durch das Flugzeugfenster erblicke ich beim Anflug auf den internationalen Flughafen Istanbul-Atatürk eine hochmoderne Megacity mit fast 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Hochgeschwindigkeitszüge verbinden Istanbul mit dem Restland und statt mit einer rostigen Fähre setzen wir nun unterirdisch von Europa nach Asien über. Die Türkei hat sich in den letzten drei Jahrzehnten von einem ärmlichen Entwicklungsland zu einer prosperierenden Demokratie entwickelt. Sie hegt die hohe Ambition, als strategisch wichtiges Mitgliedsland bald auch der Europäischen Union beizutreten.
Bei den Wahlen im Frühjahr 2015 verlor die AKP von Recep Tayyip Erdogan aber ihre absolute Mehrheit im Parlament. Die kurdische Partei HDP dagegen schaffte erstmals den Sprung ins Parlament, nachdem Erdogan angesichts umfassender Umwelt- und Demokratieproteste in den Jahren zuvor sein Image als Reformer eingebüsst hatte.
Angesichts dieser Niederlage hatte Erdogan – unterdessen zum Staatspräsidenten aufgestiegen – jetzt genug vom demokratischen Fortschritt. Er goss Öl ins Feuer des Konflikts mit der starken kurdischen Minderheit (12 Mio. Menschen), liess die Parlamentswahlen wiederholen und nutzte schliesslich einen gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 zu einer massiven Säuberungswelle, welche jene der Generäle in den frühen 1980er-Jahren bei weitem überstieg. Eine aktuelle Bilanz über die Anzahl der Verhafteten und Entlassenen im Nachgang des Putsches bis heute finden Sie hierExterner Link.
Vor meinem Abflug trank ich einen Kaffee in der «July 15 Heroes of Democracy»-Lounge. Diese politische Umbenennung erfolgte wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch, den Erdogan «als Geschenk Allahs» bezeichnet hatte.
5. Vom Traum zum Alptraum: Die letzten 30 Jahre waren gesellschaftlich und wirtschaftlich die bislang erfolgreichsten – nicht nur in der Türkei, sondern auch in grossen Teilen der Welt. Der Wohlstand und die Demokratie breiteten sich aus wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte.
Dabei wurden allerdings zwei Dinge zu wenig beachtet: der neue Wohlstand erreichte verschiedene Bevölkerungsschichten nur teilweise: Wenigen grossen Gewinnern standen an vielen Orten sehr viele Marginalisierte gegenüber. Dazu wurde die Demokratie in vielen Ländern der Welt auf den Trümmern sehr undemokratischer Regimes errichtet, die schlimme bis schlimmste Taten begangen hatten. Eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit aber hat kaum oder gar nicht stattgefunden.
In der Türkei gehören zu dieser Vorgeschichte nicht nur die Brutalitäten der Militärregimes, sondern auch die systematische Unterdrückung einheimischer Minderheiten, aber vor allem auch der bis heute negierte Massenmord (Genozid) an den Armeniern 1915/16, also noch zu Zeiten des Osmanischen Reiches. Der Traum von mehr Offenheit, Freiheit und Demokratie droht nun deshalb in einen Alptraum zu kippen: durch das von Erdogan verordnete Referendum vom Sonntag in der Türkei. Mit der Präsidialverfassung preist sich der Herrscher Erdogan den Bürgern als «Schutzwall gegen das Chaos» an und verspricht, künftig «im Namen des Volkes» für alle sprechen zu wollen.
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