Viele Schweizer Lokalpolitiker:innen werden beleidigt und bedroht
Drohungen und Beleidigungen sind für Schweizer Politiker:innen nicht die Ausnahme. Köperliche Angriffe sind aber selten. Dies zeigt eine neue Studie.
Die rund 2000 Schweizer Gemeinden haben viel Gestaltungsraum. Entsprechend ist die Lokalpolitik eine tragende Säule der Demokratie. Es braucht also auch stets neue Gesichter, die bereit sind, sich zu engagieren, ohne die Vorteile und die Entschädigung der professionellen Politik.
Die Lokalpolitik teilt mit den höheren Ebenen zwar nicht den Glamour, aber dafür einige Nachteile. Dazu gehören auch Drohungen und Aggressionen, wie eine vergangene Woche veröffentlichte Studie des Zentrums für Demokratie AarauExterner Link (ZDA) zeigt.
Mehr als ein Drittel der 1000 befragten Gemeindepolitiker:innen habe in den letzten 12 Monaten verbale Beleidigungen erlebt, so das ZDA. Weitere 6,4% berichteten von Angriffen auf ihr Hab und Gut, und 3% wurden Opfer von physischer Gewalt.
Online-Aggressionen (31%) und gezielte Fake News (20%) waren ebenfalls weit verbreitet. Frauen waren häufiger von Beleidigungen betroffen. Körperliche Gewalt richtete sich hingegen häufiger gegen rechte Politiker:innen.
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Da es das erste Mal ist, dass diese Daten auf lokaler Ebene erhoben werden, ist es schwer zu sagen, ob die Gewalt zunimmt oder nicht. Auf jeden Fall ist das Ausmass «überraschend», sagt der Co-Autor der Studie, Stefan Kalberer – vor allem überrasche die Quote von 36% bei verbalen Beleidigungen. Und auch wenn körperliche Aggressionen selten seien, müsse man die vorhandenen Fälle beachten, denn es gebe für keinerlei Gewalt eine Berechtigung, so Kalberer.
Kalberer weist auch auf die Folgen der Aggressionen auf das Verhalten. Insgesamt waren drei Viertel der Befragten mit ihrer politischen Rolle «zufrieden».
43% der Befragten, die eine Form von Angriff erlebten, haben aber ihre Online-Gewohnheiten angepasst. Laut Kalberer könne Selbstzensur oder eine Einschränkung der Nutzung Sozialer Medien bedeuten. Frauen haben besonders häufig auf diese Art reagiert. Fast ein Viertel der Befragten gab an, dass sich die Aggression auf ihre parlamentarische Arbeit auswirkt, so Kalberer – zum Beispiel würden sie sich bei bestimmten Abstimmungen enthalten.
Die Hauptgründe, warum sich manche komplett aus der Politik zurückziehen, sind hingegen aber Zeitmangel und der Eindruck, keinen Einfluss zu haben. Für einige, vor allem jüngere Menschen oder Frauen, stellten die Aggressionen jedoch einen Faktor dar.
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Die Schweizer Studie erscheint nach Jahren voller aufsehenerregender und tragischer Angriffe in westlichen Demokratien.
Gewalt gegen Politiker:innen von Deutschland bis in die USA
In Deutschland wurde 2019 der christdemokratische Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten erschossen und löste eine breite öffentliche Debatte über politische Gewalt aus.
Seitdem haben sich verbale und physische Angriffe auf Politiker:innen in Deutschland mehr als verdoppelt, wobei die Grünen im vergangenen Jahr die am stärksten betroffene Partei waren. In Frankreich wurden im Vorfeld der Wahlen im Juli über 50 Kandidierende und Aktivist:innen tätlich angegriffen. In Grossbritannien sind im letzten Jahrzehnt zwei Abgeordnete ermordet worden. Dieses Jahr sind der slowakische Premierminister Robert Fico und US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump angeschossen worden.
Schweizer Medien berichten regelmässig über Vorfälle wie MorddrohungenExterner Link, Milchshake-AttackenExterner Link oder SachbeschädigungenExterner Link. Die Statistiken des Bundesamts für Polizei (Fedpol) zeichnen ein differenzierteres Bild, das sich unlängst verbessert hat. Letztes Jahr registrierte das Fedpol 290 Drohungen gegen Politiker. Im Jahr 2022 waren es 528.
Der Rückgang im letzten Jahr erfolgte jedoch nach den drei von Aggressionen geprägten Pandemiejahren. 2021 gab es einen Höchststand von 1215 Drohungen. Und da der Ton der Drohungen «besonders bösartig» geworden ist, stuft das Fedpol nun mehr Fälle als ernstzunehmend ein.
Letztes Jahr erforderte ein Fünftel aller Drohungen ein polizeiliches Eingreifen, 2022 war es nur etwa ein Zehntel.
Polarisierung im Internet
Wenn es um die Ursachen dieser Gewalt geht, verweisen viele Politiker:innen und Beobachtende – auch das Fedpol – auf die Auswirkungen der Polarisierung, insbesondere im Internet. Während des aggressiven Wahlkampfs in Frankreich im Sommer kritisierte der Innenminister die Beteiligung von «ultralinken, ultrarechten oder anderen politischen Gruppen».
Viele Länder haben daher versucht, herauszufinden, wie sie gegen Hassrede im Internet vorgehen können. Das Gesetz über digitale Dienste der Europäischen Union soll beispielsweise grosse Technologieunternehmen dazu zwingen, ihre Plattformen besser zu überwachen. In Deutschland müssen jene, die extreme KommentareExterner Link veröffentlichen, mit Geldstrafen von Tausenden Euro rechnen. Im Grossbritannien wurden während der jüngsten Unruhen einige zu Gefängnis verurteilt, die gewalttätige NachrichtenExterner Link gepostet hatten.
Zur Bekämpfung von Online-Gewalt, die sich speziell gegen Lokalpolitiker:innen richtet, werden in einem Bericht des EuroparatsExterner Link aus dem Jahr 2022 Massnahmen wie Schulungen zum Umgang mit Drohungen, härtere Gesetze gegen Hasskommentare, proaktivere Kampagnen gegen Hassrede oder Polizeischutz vorgeschlagen. Beratungsstellen können ebenfalls nützlich sein.
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Der Faktor Vertrauen: Was ist seine Bedeutung für die Schweiz
«Allein das Wissen, dass ich anrufen kann, hilft enorm», hat die Schweizer Sozialdemokratin Meret Schindler letztes Jahr gegenüber den Tamedia-Zeitungen gesagt. Schindler wurde eine solche Anlaufstelle bei der Polizei angeboten, nachdem sie einen Drohbrief erhalten hatte.
Letztlich sei es auch wichtig, sich einen Überblick über das Ausmass des Problems zu verschaffen, schreibt der Europarat. Zum Beispiel durch die Einrichtung von Online-Meldeplattformen, wie ein letztes Jahr in Zürich gestartetes Pilotprojekt. Oder durch Studien wie diejenige, die das ZDA diese Woche durchgeführt hat.
Editiert von Benjamin von Wyl/amva, Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl
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