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Vom Absolutismus bis hin zur Demokratie: Wie die Schweiz Bhutan 50 Jahre lang begleitet hat

Ein Wähler verlässt ein Wahllokal, nachdem er seine Stimme abgegeben hat
Ein Wahllokal in Timphu während den letzen Parlamentswahlen, die am 9. Januar 2024 stattgefunden haben. Money Sharma / AFP

Helvetas war 1975 die erste internationale Entwicklungsorganisation in Bhutan. Dass sich das Schweizer Hilfswerk nun aus dem Himalaja-Land zurückzieht, ist für viele das nächste Kapitel einer Erfolgsgeschichte. Das finden auch die lokalen Helvetas-Mitarbeitenden.

Die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Bhutan begann mit einer Freundschaft. In den 1940er-Jahren lernte die Tochter von Schweizer Industriellen eine Bhutanerin kennen, die später die Frau des Königs werden sollte.

Diese Freundschaft brachte das Schweizer Industriellenpaar 1952 nach Bhutan, wo der König sie um Unterstützung für die Modernisierung des Landes bat. Bald kamen Fachleute aus der Schweiz ins buddhistische Königreich und berieten die Bevölkerung in der Landwirtschaft oder bei der Errichtung von Krankenstationen.

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1975 wollten die Schweizer die umfangreicher werdende Arbeit einer professionellen Organisation übergeben. Die Wahl fiel auf die Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas, die bereits im Nachbarland Nepal tätig war.

Schweiz-Bhutan: Eine «Special Relationship»

Ein halbes Jahrhundert lang hat die Schweiz seither eine Beziehung zum kleinen Königreich gepflegt, die das Schweizer Aussenministerium bis heute als Special RelationshipExterner Link beschreibt.

Porträt von Lionel Giron
Lionel Giron, Regionalkoordinator für Nepal, Bhutan und Vietnam bei Helvetas. Helvetas / Maurice K. Gruenig

«Zu Beginn lag der Fokus vor allem auf Bildung, Land- und Forstwirtschaft», sagt Lionel Giron, Regionalkoordinator für Nepal, Bhutan und Vietnam bei Helvetas.

Der Wald spielt für das buddhistische Königreich am Rand des Himalajagebirges seit jeher eine besondere Rolle. Das Land ist zu 70% von Wald bedeckt. Die vielen Bäume helfen nicht nur, das Klima im Lot zu halten – Bhutan ist sogar CO2-negativ.

Durch die Forstwirtschaft wurden die Bhutaner:innen auch an die praktische Demokratie herangeführt, als das Land noch eine absolutistische Monarchie war.

Bhutans genossenschaftlicher Ansatz in der Waldwirtschaft

1979 beschloss der damalige König, die Waldwirtschaft partizipativer zu gestalten. Daraufhin führte Helvetas das Konzept der kommunalen Forstwirtschaftsgruppen ein, die ähnlich einer Genossenschaft funktionieren: Die Wälder werden von den Dorfgemeinschaften verwaltet; jeder Haushalt darf nur eine bestimmte Anzahl Bäume pro Jahr fällen. Was sie selbst nicht brauchen, wird verkauft.

Der Ertrag fliesst in die Gemeinschaftskasse, aus der die Mitglieder einen Kredit beziehen können, zum Beispiel, um Schulgeld zu bezahlen. Alle paar Jahre wird der Gewinn an die Mitglieder verteilt. Ein System, das an Genossenschaften erinnert.

Das Konzept, das auch vom Schweizer Staat und der Weltbank unterstützt wurde, ist bis heute erfolgreich. Über 600 Dorfgemeinschaften sind in gemeinschaftlichen Waldgruppen organisiert.

Drei Männer in einem Wald
Unterwegs in den Wäldern Bhutans. Helvetas

Die Waldgruppen als Treiber der lebendigen Demokratie

Neben der Nutzung von Ressourcen dienen die Gruppen auch als Diskussionsforen für andere Fragen – besonders seit der Übergang zur Demokratie gestartet ist. «Die Waldgruppen tragen wesentlich zur Entwicklung einer lebendigen Demokratie bei», sagt Lionel Giron.

Die Demokratie in Bhutan ist eine der jüngsten weltweit. Es war im Jahr 2006, als der König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck den Thron von seinem Vater übernahm. Damit erbte er auch dessen Pläne, Bhutan in eine Demokratie zu überzuführen. Zuvor liefen alle Fäden bei der Zentralregierung und in höchster Instanz dem Monarchen zusammen.

Krönung in Bhutan
Die Krönung am 6. November 2008 von Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, dem Nachfolger seines Vaters Jigme Singye Wangchuck, zum “Drachenkönig” von Bhutan. Petra Wiehe / Keystone

Der Entscheid für die neue Regierungsform hat auch mit der bhutanischen Philosophie des Bruttonationalglücks zu tun, die nicht nur ökonomischen Fortschritt, sondern die Zufriedenheit der Gesellschaft misst. Und der damalige König war der Ansicht, dass es für das Glück der Bevölkerung langfristig besser sei, die Macht aufzuteilen.

Demokrat:innen aus Vertrauen in Bhutans König

Jedoch war es nicht so, dass die rund 800’000 Einwohner:innen Bhutans mehr Mitbestimmung verlangten, wie Tashi Pem, Landesdirektorin von Bhutan bei Helvetas sagt: «Sie verehrten ihren König und waren denn auch eher besorgt, wie es sein wird, wenn er nicht mehr die Entscheidungshoheit hat.»

Porträt von Tashi Pem
Tashi Pem, Landesdirektorin von Bhutan bei Helvetas. Helvetas / Patrick Rohr

Aber da sie dem König vertrauten, akzeptierten sie dessen Entscheid und wählten 2008 erstmals ein Zweikammer-Parlament. Seither gab es vier Parlamentswahlen, denen friedliche Machtwechsel folgten. Die letzte Wahl fand zu Beginn dieses Jahres statt, mit einer Wahlbeteiligung von rund 66%.

Doch wie geht Demokratisierung in einem Land, in dem der König als alleiniger Herrscher verehrt wird? Hier wurde die Schweiz zu Rate gezogen. Eigentlich wollte sich die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), die einen Grossteil der Projekte finanzierte, bereits in den Nullerjahren aus Bhutan zurückziehen.

Doch 2008 wurde sie von der Zentralregierung Bhutans gebeten, das Land bei dem Übergang zur Demokratie zu begleiten. Das hat auch für Helvetas die Schwerpunkte in Bhutan verlagert.

Weniger Zentralismus in der jungen Demokratie

«Mit Einführung der Demokratie ging es als erstes darum, die Aufgaben zu dezentralisieren», sagt Lionel Giron.

Praktisch sah das etwa so aus: Zuerst wurde ein Teil jener behördlichen Aufgaben, die bis dahin zentral von der Hauptstadt aus verwaltet wurden, an die 20 Dzongkhags, vergleichbar mit den Kantonen in der Schweiz, übertragen. Später wurden weitere Aufgaben an die nächst tiefere Verwaltungsstufe delegiert, an die 205 Gewogs, vergleichbar mit Verwaltungskreisen, und schliesslich an die Gemeinden.

Ein Mann liest eine Wahltafel
Wahltafeln in Trongsa für die bevorstehenden Parlamentswahlen im Dezember 2023. Afp Or Licensors

Nach der Reform der Organisation kam die Vermittlung von Fähigkeiten. «Wir investierten viel in die Ausbildung von lokalen Amtsträger:innen zum Thema gute Regierungsführung», sagt Giron.

Der Rückzug der offiziellen Schweiz erfolgte dann im Jahr 2016. Zur selben Zeit wurden neben der dezentralen Regierungsführung unter anderem die Anti-Korruptionsbehörde und das Justizwesen aufgebaut.

Helvetas aber blieb im Land. «Die Schweiz war für Bhutan mit ihrer Demokratieerfahrung ein Vorbild, besonders was gesellschaftliche Mitbestimmung angeht», sagt Tashi Pem.

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In den letzten Jahren versuchte Helvetas verstärkt, die Bürgerpartizipation in der Praxis zu etablieren. Zum Beispiel mit dem Aufbau von Gemeindeorganisationen, die in ihrer Dorfgemeinschaft unterschiedliche Verantwortlichkeiten innehaben, etwa über die Wassernutzung, die Instandhaltung der Strassen oder Tourismusangebote.

Medienzensur, Diskriminierung und Beschränkung zivilgesellschaftlicher Organisationen

Trotz den vielen positiven Entwicklungen ist die demokratische Kultur in Bhutan noch nicht vollständig etabliert. So gibt es etwa internationale Kritik wegen MedienzensurExterner Link. Die wichtigste Zeitung gehört dem Staat und kein Gesetz garantiert die redaktionelle Unabhängigkeit des staatlichen Bhutan Broadcasting Service.

Auch religiöse Minderheiten haben es in Bhutan schwer, weil das Land seine Identität als einziger tibetisch-buddistischer Nationalstaat der Welt bewahren will. Ausserdem kritisiert werden fehlende Frauen in Führungspositionen.

Weiter gibt es nur eine Handvoll zivilgesellschaftliche Organisationen (CSO). Die meisten davon dienten dem Gemeinwesen, wie Lionel Giron sagt. «Die Regierung will die Anzahl CSOs in Grenzen halten, da sie glaubt, sie könnten Unruhen auslösen.» Daher erlaube die Regierung vor allem Organisationen, die keinen politischen Standpunkt vertreten, sondern sich um benachteiligte oder gefährdete Gruppen kümmern.

Bhutans unzufriedene Jugend

Der Grossteil der Gesellschaft verlange jedoch auch nicht nach mehr Mitbestimmung, sagt Giron. Anders sei dies bei der jungen Generation, die zunehmend nach Selbstbestimmung strebe. Doch ausgerechnet diese verlässt in Rekordzahlen das Land.

Trotz Bruttonationalglück: Die Unzufriedenheit bei den jungen Menschen ist hoch. Gründe sind vor allem fehlende Jobs, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 29%.

Die Journalistin und Aktivistin Namgay Zam sieht bei den Jugendlichen zudem die Tendenz, mit den streng hierarchischen Umgangsformen der buddhistischen Gesellschaft brechen zu wollen. Zudem ist Bhutans Wirtschaft angeschlagen, was zum Teil auf den Tourismussektor zurückzuführen ist, der sich immer noch nicht von der COVID-19-Pandemie erholt hat.

Dorf inmitten von bewaldeten Hügeln
Bhutan ist zu 70% von Wald bedeckt und damit sogar CO2-negativ. Lee Frost / AFP

«Wir haben unsere Arbeit erfüllt»

Trotz diesen Herausforderungen wird sich Helvetas nach 50 Jahren aus Bhutan zurückziehen. Ende 2025 laufen sämtliche Projekte aus.

«Wir haben unsere Arbeit erfüllt», sagt Lionel Giron und führt aus: «Bhutan hat enorme Entwicklungsschritte durchlaufen in den letzten Jahren, unsere Unterstützung ist nicht mehr absolut notwendig.» So wurde Bhutan kürzlich von einem wenig entwickelten Land (LDC) zu einem Land mit mittlerem Einkommen (MIC) hochgestuft.

Tashi Pem und das ehemalige Helvetas-Team in Bhutan werden künftig mit einer neu gegründeten eigenen Firma namens «LEAD+» die Tätigkeiten der Schweizer NGO weiterführen. Das Unternehmen, das Bhutaner:innen gehört, will unter anderem mit Beratungsangeboten die Zivilgesellschaft, lokale Regierungsführung und gemeinschaftlich geführten Tourismus stärken.

Für Tashi Pem ist der Schweizer Rückzug «trotz aller Nostalgie» das nächste Kapitel einer Erfolgsgeschichte. «Der Weggang bedeutet auch, die Verantwortung in lokale Hände zu legen», sagt Tashi Pem.

Editiert von Benjamin von Wyl

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