Warum sich manche Menschen im Namen der Freiheit dem Autoritären zuwenden
Die Basler Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeigen anhand von radikalen Gegner:innen der Corona-Massnahmen, ehemals Friedens- und Umweltbewegten, wie ein neuer Typus von Demokratie-Gegner:innen entstanden ist.
Es waren erst sechs Tage seit dem Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 vergangen. Da versuchten der Star-Historiker Quinn Slobodian und Harvard-Politologe William Callison in der Boston ReviewExterner Link zu erklären, was da passiert war. Wer waren die Aufständischen, die das Kapitol stürmten und zerstörten? Die bunt bemalten Wikinger und Cowboys sahen anders aus, als man sich rechtsextreme Vandalen gemeinhin ausmalt. Sie wirkten eher wie Menschen, die Wert darauf legen, dass man sie als Individuen wahrnimmt.
Slobodian und Callison erkannten bei vielen derjenigen, die das Kapitol stürmten, eine politische Dynamik, die sie «Diagonalismus» nannten. Den Begriff leiteten sie von den «Querdenkern» her, wie sich die radikalen Gegner:innen der Pandemiemassnahmen im deutschsprachigen Raum nannten.
Slobodian und Callison schrieben: «Am extremen Ende teilen diagonale Bewegungen die Überzeugung, dass alle Macht Verschwörung ist.» Öffentliche Macht könne für sie gar nicht legitim sein. Sie seien von links nach rechts gewanderte «Nachfolger:innen der ausserparlamentarischen Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er» – ohne Idealismus oder dem Wunsch nach kollektivem Handeln und Befreiung.
Slobodian und Callison stützten sich auch auf eine Studie der Universität Basel über radikale Gegner:innen der Pandemiemassnahmen, auf die soziologische Forschung von Oliver Nachtwey.
Von Kosmopoliten zu starken AfD-Anhängern
Nachtwey und sein Team waren die ersten, die die Haltungen von Covid-Massnahmengegner:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersuchten. Sie kamen zum Schluss, dass einige der Protestierenden ursprünglich aus dem linken und ökologischen Milieu gekommen sind und nun höchstens noch Rechtsaussen-Parteien glauben.
Im Gespräch mit SWI swissinfo.ch erinnern sich Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey an ihre anfängliche Überraschung darüber, dass es Menschen gibt, «die sich als Kosmopoliten sahen und nun starke Anhänger der AfD sind».
Ähnliches begegnete Nachtwey bereits 2017 in Interviews mit Unterstützenden der Onlinekampagnenplattform Campact. Campact setzt sich für «progressive Politik» ein, oft für soziale und Umweltthemen. Umso überraschter war man dort, als sich die eigenen Unterstützenden über eine Petition gegen die deutsche Rechtsaussenpartei AfD empörten.
Mehr
Trump, Biden, Harris und der Hass: Wie US-Amerikaner:innen in der Schweiz die Polarisierung erleben
Joe Rogan, Robert F. Kennedy oder der «coolste Diktator der Welt»
Während der Pandemie hat Amlinger dazu geforscht, wie und warum manche deutsche Intellektuelle politisch ungebremst von liberalen Positionen in eine rechtsautoritäre Richtung gehen. Die Soziolog:innen Amlinger und Nachtwey sind privat ein Paar. Sie besprachen ihre Forschungsthemen. Und stellten sich die Frage: Sind wir eigentlich am selben Phänomen dran? An Menschen, die im Namen der Freiheit, autoritäre Positionen einnehmen – und der Frage, wie und warum sie das tun.
Am Ende der Diskussionen steht ihr gemeinsames Buch «Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus». Die englische Übersetzung erschien gerade in Grossbritannien. Im Februar kommt es auch in den USA raus.
«Gekränkte Freiheit» basiert auf Interviews im deutschsprachigen Raum. Doch die Lektüre schafft Anknüpfungspunkte an andere internationale Phänomene, die zeitweise vielen quer in der politischen Landschaft schienen: an den populären US-Podcaster Joe Rogan, der 2020 den linken Demokraten Bernie Sanders unterstützt hat und 2024 Donald Trump, an Bitcoin-Fans, die den «coolsten Diktator der Welt» in El Salvador feiern, an die Begeisterung für den Impfgegner Robert F. Kennedy.
Amlinger und Nachtwey beschreiben Anhänger:innen von autoritärer Politik, die sich nicht als Anhänger:innen einer Führungsfigur, sondern als Individualist:innen und Rebell:innen sehen. «Viele der Interviewten schilderten ein Gefühl, dass man die Welt nicht mehr versteht, weil sie sich gegen sie gewendet hat», sagt Carolin Amlinger.
Die Formulierung «Fremd im eigenen Land»
Oft hätten sie konkrete Kränkungen erlebt. Sie schildert das Beispiel von jemandem, der von migrantischen Menschen an einer Tankstelle nicht bedient worden war. «Viele verwenden die Formulierung ‹Fremd im eigenen Land’», sagt sie, «Diese Fremdheitserfahrung wird dann auf migrantische oder nichtbinäre Personen gelegt.»
Doch eigentlich haben, so Amlinger und Nachtwey, die Fremdheitserfahrungen und die Kränkung andere Gründe. Die beiden erkennen die Ursachen in uneingelösten Aufstiegsversprechen und schwindender Zivilgesellschaft. «Die moderne Gesellschaft ist diabolisch gestrickt», sagt Nachtwey, «Einerseits geht es vielen Menschen besser. Dass sich zum Beispiel vier Kinder ein Zimmer teilen, ist heute nicht mehr der Normalfall. Andererseits vermittelt der Individualismus ein Aufstiegsversprechen das – beispielsweise in Deutschland – nicht mehr funktioniert.»
Parallel gehe die Bedeutung von «gemeinschaftsstiftenden Orten» wie Gewerkschaften, Vereinen oder Kirchen zurück.
Von «Postdemokratie» zu «Gekränkte Freiheit»
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat «Gekränkte Freiheit» dem Verlag zur englischen Übersetzung empfohlen.
Crouchs berühmtestes Werk ist «Postdemokratie». Es machte ihn um die Jahrtausendwende zu einem Lieblingsautoren jener, die die politische Entwicklung aus linker Warte verstehen wollten. So wie heute eben Quinn Slobodian und – zumindest im deutschen Raum – Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey.
«Postdemokratie» hat damals nachgezeichnet, wie der demokratische Diskurs wegen der Professionalisierung von Public Relations und dem Einfluss des Privatfernsehens verschwinde. Man kann «Gekränkte Freiheit» nun als Erklärung der Wechselwirkung dieser von Crouch vor 25 Jahren beschriebenen Entwicklung lesen.
Viele sind einsam und empfinden die Zukunftsaussichten nicht als rosig. «In den 1960er-Jahren galt die Perspektive ‹Meinen Kindern wird es einmal besser gehen’», sagt Nachtwey. «Heute funktioniert in Ländern wie Deutschland das Aufstiegsversprechen nicht mehr.» Die Zukunft wirke «nicht mehr gestaltbar», weil «insgeheim auch die Leugnenden wissen, dass der Klimawandel voranschreitet».
Mehr
Daniele Ganser vermittelt Fake News zum Krieg in der Ukraine – und ein gutes Gefühl
Woher kommt die Faszination für Elon Musk?
Dass «Gekränkte Freiheit» im Februar in den USA erscheint, scheint passend. In den ersten Wochen des Jahres 2025 mischte sich Elon Musk in die Politik vieler Länder ein. Auch der Multimiliardär in der neuen Trump-Regierung ist einen diagonalen politischen Weg gegangen – vom Wirtschaftsliberalen mit progressiven Ansichten zum «Chef-Verstärker von Autoritarismus». So bezeichneten ihn Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey kürzlich in einem Artikel in der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In Deutschlands Medien treten die Basler Soziolog:innen als Erklärer von Javier Mileis Erfolg in Argentinien oder eben Musk auf.
«Wenn Elon Musk Rechtsextremen eine Plattform gibt, passt das zur Idee des Disruptiven: Dass man nun die liberalen Demokratien und ihre Institutionen erst einmal zerstören muss, um etwas Anderes neues aufzubauen», sagt Amlinger.
Die Idee der schöpferischen Zerstörung werde nun auf die Gesellschaftsgestaltung übertragen. Das hole viele Menschen auf der emotionalen Ebene ab. «Weil sie im Alltag das Gefühl haben, dass die Gesellschaft verkrustet ist, stillsteht und sich gar nicht oder zum schlechten entwickelt», sagt Amlinger. «Rebellen sind bereits in der klassischen kritischen Theorie der 1930er- und 1940er-Jahre vorgekommen – als Randfigur», sagt Nachtwey, «Heute sind sie keine Randfigur mehr.»
Kritik an «Gekränkte Freiheit»
Viele deutschsprachige Medien haben «Gekränkte Freiheit» sehr wohlwollend besprochen. Die Süddeutsche Zeitung nannte das Buch «beinahe einen Pageturner» dafür, wie viel Theorie und Anspruch es verbinde.
Kritischer setzte sich die liberale NZZ mit «Gekränkte Freiheit» auseinander. Zwar sei es ein «theoretisch originelles, empirisch gehaltvolles und zugänglich geschriebenes Buch». Doch die eigene Freiheitsdefinition von Amlinger und Nachtwey stufe Solidarität zu hoch ein. Es mangle also an Verständnis für jene, die sich gegen Freiheitseinschränkungen während der Pandemie aufgelehnt hätten – wie beispielsweise, dass in Deutschland während der Pandemie zeitweise nur Geimpfte und Genesene in alle Läden durften.
Die Sozialwissenschaften in Deutschland seien, so der NZZ-Rezensent, entsprechend gefärbt; anders als die Diskussion in der englischsprachigen Welt. Der Blick der beiden auf «negative Freiheiten» – also die Freiheit vor Einschränkungen – war dem Rezensenten zu kritisch: «Nicht die Freiheit, sondern ihre Beschränkung bedarf der Rechtfertigung.»
Über das Freiheitsverständnis kann man streiten, über die Realität nicht. Wie Slobodian und Callison es für das Milieu der Vandalen beim Sturm aufs Kapitol beschrieben haben, zeigt auch «Gekränkte Freiheit» das paranoide Weltbild, das viele dieser neuen, libertären Autokraten vertreten.
«Zumindest an Selbstkritik» mangle es Politik und Behörden
Den Impuls, kritisch gegenüber der Macht zu sein und sich zu engagieren, halten Nachtwey und Amlinger aber für richtig. Im Buch treten sie ein für «eine vitale Herrschaftskritik von unten, die die Realität nicht bestreitet, sondern versucht, die Verhältnisse zu verändern».
Auch im Gespräch machen Nachtwey und Amlinger klar, dass sie den liberalen Demokratien nicht kritiklos gegenüberstehen. «Es ist ja nicht nur eine Verschwörungstheorie, dass die Versprechen der modernen Gesellschaft oft nicht eingehalten werden», sagt Nachtwey. «Zumindest an Selbstkritik mangelt es den liberalen Demokratien.» Die Politiker:innen und Behörden müssten «aus den Fehlern lernen und diese benennen». Es brauche da eine selbstkritischere Haltung und einen anderen Umgang mit begründeter Kritik.
Dies würde, so Amlinger und Nachtwey, womöglich verhindern, dass sich manche in Verschwörungserzählungen verstricken und sich im Namen der Freiheit gegen die Demokratie und ihre Institutionen stellen.
Mehr
Editiert von David Eugster
Mehr
Unser Demokratie-Newsletter
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch