Weise alte Herren in Tunis, neue Macht in der Provinz
Tunesien steht die Dezentralisierung bevor - die Macht muss mit den Gemeinden und Provinzen geteilt werden. Das Global Forum on Modern Direct Democracy vom 14. bis 17. Mai in Tunis soll Impulsgeber sein. Der Schweizer Politikwissenschaftler und Demokratieexperte Andreas Gross hält eine der beiden Eröffnungsreden. Im Interview benennt er Haupthindernisse.
swissinfo.ch: Tunesien hat grosse wirtschaftliche Probleme, den Menschen geht es eher schlechter als vor der Revolution 2010/11. Setzt das Global ForumExterner Link ein Zeichen der Hoffnung, das von den Menschen im Land gehört wird?
Andreas GrossExterner Link: Die Tunesier scheinen dies zumindest so zu empfinden. Viele freuen sich auf die Diskussionen, weil sie überzeugt sind, dass diese sie weiterbringen. Zudem ist jeder Besuch aus dem Ausland, aus dem sehr viele der rund 400 offiziellen Teilnehmer stammen, für viele Tunesier ein Zeichen der Ermutigung und Bestärkung. Die einzige erfolgreiche demokratische Revolution in einem arabischen Land verdient auch jegliche Unterstützung unsererseits.
swissinfo.ch: «Dezentralisierung durch Partizipation», lauten der Auftrag der tunesischen Verfassung und der Titel des Forums. Was sind die Hauptprobleme auf dem Weg zu mehr Autonomie in den Gemeinden und Provinzen?
Andreas Gross
Der 62-jährige Basler ist Historiker, Politikwis-senschaftler, Spezialist für Fragen rund um die Direkte Demokratie und seit 24 Jahren Zürcher Nationalrat. Im Europarat präsidiert er seit acht Jahren die sozialdemokratische Fraktion und brachte in dieser Funktion Tunesien auf dessen Agenda.
Bei den Wahlen 2011 und 2014 war Gross Leiter der Beobachter-Delegation des Europarats.
Insgesamt arbeitete er seit der Revolution zehn Mal in Tunesien und kam mit Dutzenden von Akteuren in Kontakt.
A.G.: Die äusserst zentralistische Struktur des gegenwärtigen Staates und die fehlenden Erfahrungen mit lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Obwohl nie eine Kolonie Frankreichs, hat Tunesien das sehr zentralistisch-hierarchische System Frankreichs übernommen. Die Unterschiede zwischen den Regionen betreffend Lebenschancen sind enorm. Diese wirtschaftlichen Disparitäten der Regionen waren mit ein Grund für die Revolution. In bestimmten Teilen des Landes war ein würdiges Leben gar nie möglich. Dies zu ändern, ist eine riesige Aufgabe. Aber genau diese haben sich die neue Regierung und das neue Parlament vorgenommen.
Hier können Erfahrungen mit den «Schwestern» direkte Demokratie & Föderalismus – beider Wesensmerkmale sind die Machtteilungen – helfen. Die Kultur der Subsidiarität bedeutet: Je näher Probleme bei den Bürgern gelöst werden, desto besser das Ergebnis. Entsprechend gilt es, die revolutionären Reformen fortzusetzen. Denn der revolutionäre Elan ist noch nicht erlahmt und muss weiter genutzt werden.
swissinfo.ch: Es gibt ja offenbar auch konterrevolutionäre Tendenzen.
A.G.: Davon habe ich auch gehört. Aber Tunesien verfügt über eine hoch entwickelte und gut organisierte Zivilgesellschaft. Würden Regierung oder Parlament in die falsche Richtung arbeiten, gingen die Menschen sofort auf die Strasse und würden die Herrschaften zurückpfeifen – so wie sie dies in den vergangenen vier Jahren einige Male getan haben.
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swissinfo.ch: Wo steht Tunesien genau im Prozess der Machtteilung? Gibt es die Gemeinden und Regionen schon, in denen die Bürger mitentscheiden sollen?
A.G.: Es gibt sie, nur gleichen sie eher leeren Hülsen. Diese Strukturen müssen also völlig gefüllt werden. Oft sind jene, die viel Macht haben, nicht bereit, sie zu teilen. Da braucht es den Druck der Menschen. In den anstehenden Regionalwahlen geht es darum, dass nur jene gewählt werden sollten, die die Idee der Revolution nach unten tragen und die Dezentralisierung voranbringen und mit Leben füllen.
swissinfo.ch: Yadh Ben Achour, Vorsitzender der Übergangskommission zur Erhaltung der revolutionären Errungenschaften und mit Ihnen einleitender Referent am Forum, hat die gesellschaftliche Modernisierung unter Bourguiba als Fundament der Erfolge der Jasmin-Revolution bezeichnet. Sehen Sie das auch so?
A.G.: Bourguiba war zwar auch ein autoritärer Herrscher. Aber mit seiner Gleichberechtigung der Frau war er 1956 viel weiter als die damalige Schweiz. Dazu schuf er freien Zugang zu Bildung. Das führte tatsächlich zu sehr starken zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche einer der Gründe sind, weshalb die Revolution in Tunesien gelang. Diese sind jetzt übrigens auch beim Prozess der Dezentralisierung hilfreich.
Neue Plattform direkte Demokratie
Das Global Forum for Modern Direct Democracy findet vom 14. bis 17. Mai 2015 in Tunis statt.
Thema ist «Dezentralisierung durch Partizipation». Der Hashtag für Twitter lautet #globfor15.
Für swissinfo.ch ist der prominent besetzte Anlass der internationale Startschuss zum neuen Portal «Direkte Demokratie» mit Hashtag #citizenpower.
Diese journalistische Plattform beleuchtet in zehn Sprachen die aktuellen Diskussionen, Prozesse und Herausforderungen rund um das Thema Volksrechte, aktive Bürgerbeteiligung und partizipative Demokratie.
Bestandteil der Medieninitiative von swissinfo.ch ist auch die Plattform «People2Power». Chefredaktor ist der Schweizer Demokratiespezialist Bruno Kaufmann.
swissinfo.ch: Viele wichtige Posten in Regierung und Parlament besetzen ältere Politiker. Haben diese tatsächlich den Willen, die Macht zu teilen?
A.G.: Mit der Art Ihrer Frage tun Sie diesen älteren Herren unrecht. Einigen von ihnen hat die Revolution sehr viel zu verdanken. Etwa, dass es nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen oder zu grossen Rückschlägen gekommen ist. Hauptproblem ist das Verhältnis zwischen Religion und Staat. Der geschasste Diktator verbot oder marginalisierte Religion. Jetzt, wo sie wieder erlaubt ist, dominiert sie. Das richtige Gleichgewicht zwischen Religion und Staat zu finden, ist ein gesellschaftlicher Lernprozess, der nur möglich ist, wenn man frei ist, Kritik zu üben.
Diese alten Herren waren teils unter Bourguiba schon dabei, hatten sich aber in den letzten 15 Jahren von Ben Ali zunehmend distanziert. Zu ihnen gehört auch Yadh Ben Achour. Die revolutionäre Kommission, die er präsidierte, hat eine ganz entscheidende Brücke gebaut zwischen der Revolution und der verfassungsgebenden Versammlung, die verschiedenen revolutionären Fraktionen integriert sowie die Grundlagen für zwei freie Wahlen geschaffen. Er ist alt, aber sehr umsichtig und weise. Wie auch Béji Caïd Essebsi, der neue Präsident. Sie wollen die Werte der Revolution wirklich umsetzen und haben keine grossen persönlichen Ambitionen. Tunesien ist ein Beispiel dafür, dass weise Menschen mit Wurzeln in der alten Gesellschaft eine wichtige Brücke bauen können zur neuen revolutionären Gesellschaft.
swissinfo.ch: Der Anschlag von Islamisten im Nationalmuseum vom März zeigt, wie verletzlich das Land ist, das am meisten IS-Kämpfer stellt. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, die Heimkehrer aus Syrien ins Land bringen?
A.G.: Die Frage lautet, weshalb Tausende von jungen Tunesiern das Land verlassen, um sich gewalttätigen Extremisten anzuschliessen. Das hat mit fehlender Lebensperspektive und dem himmeltraurigem Elend vieler Jugendlicher zu tun. Wirtschaftlich geht es vielen im Land schlecht, auch weil jetzt ungerechterweise weniger Touristen, der wichtigste Industriezweig Tunesiens, kommen. Auch spielt die Nachbarschaft zum implodierenden Libyen eine Rolle. Dieses ist heute ein gescheiterter Staat ohne jegliche Ordnung, aus dem allein zeitweilig eine Million Flüchtlinge nach Tunesien strömten. Dazu kam eine weitere Million Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten südlich der Sahara. Bei rund zehn Millionen Einwohnern macht das 10% bis 20% aus, was enorme Probleme schafft.
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Die grösste Schwierigkeit besteht darin, aus dieser wirtschaftlichen Misere herauszukommen. Den jungen Menschen, die aus Elend und Perspektivlosigkeit die Revolution ausgelöst haben, muss man sofort verbesserte Lebenschancen bieten. Das ist das beste Mittel gegen die Instrumentalisierung des Elends durch islamische Fundamentalisten.
swissinfo.ch: Zurück zum Forum: Auf was freuen Sie sich am meisten an diesen vier Tagen?
A.G.: Erstens, dass ich als Schweizer, also als Kind der einzig gelungenen Revolution des 1848er «Völkerfrühlings», der einzig gelungenen Revolution des «Arabischen Frühlings» von 2011 beistehen kann. Zweitens auf die Antworten. Nämlich auf meine Frage, weshalb sie nach der Revolution eine vorzügliche Verfassung machten, ohne diese aber dem Referendum des Volkes zu unterstellen, wie dies nach einer demokratischen Revolution üblich ist. Dieses Tüpfelchen auf das i wollten sie nicht. Es nimmt mich sehr wunder, weshalb.
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