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Wenn moderne Bürgerbeteiligung die Dorfbewohner erreicht

Trotz neuem politischem Wind durch die Gruppe Mont citoyen bleibt die Kirche von Mont-sur-Lausanne im Dorf. Sissssou

Die Menschen noch besser in Entscheidungsprozesse der Wohngemeinde einbeziehen und die partizipative Demokratie in der Schweiz stärken: Das sind die Ziele, die sich eine neue politische Gruppierung in Le Mont-sur-Lausanne oberhalb des Genfersees auf die Fahnen geschrieben hat.

Es sind gut 30 Personen, die sich an diesem Abend im Gemeindesaal von Mont-sur-LausanneExterner Link einfinden. Das sind nicht sehr viele, zählt doch die Gemeinde oberhalb Lausannes rund 7000 Einwohner. Das Grüppchen folgte einer Einladung von Le Mont citoyenExterner Link: Demokratie – Solidarität Ökologie, einer Bürgerorganisation, die im April dieses Jahres gegründet worden war.

Der Abend steht unter einer klaren Zielsetzung: der Ausarbeitung eines Programms im Hinblick auf die Gemeindewahlen von 2016. Das neue Forum solle den Bürgern die Wiederaneignung der Demokratie ermöglichen, sagt Philippe Somsky von Le Mont citoyen. Dazu sollen sie Themen einbringen, die sie direkt betreffen würden. «Und es geht auch darum, die Grenzen der repräsentativen Demokratie zu überwinden», so Somsky.

Themen liegen offen auf dem Tisch

Die Teilnehmenden verteilen sich auf mehrere Tische, auf denen Zettel mit verschiedenen Vorschlägen liegen. Diese – es sind für jede Tischrunde dieselben – kreisen um die drei grossen Themen, die Le Mont citoyen primär verfolgt: Ökologie, Demokratie und Solidarität.

«Einrichtung von Abfallentsorgungsstellen in der Nachbarschaft», «Vorschläge für öffentliche Arbeiten für Asylsuchende oder Arbeitslose», «Einführung von Sozial- und Umweltkriterien im öffentlichen Auftragswesen» oder «Gemeindelokale für Vereine und Organisationen» lauten einige Vorschläge, die Somsky und seine Mitinitianten unter die Leute bringen wollen.

Das Prozedere ist einfach, transparent und für alle nachvollziehbar: Nun haben die Tischrunden 15 Minuten Zeit, die Vorschläge zu diskutieren, abzuändern oder durch neue Ideen zu ersetzen. Was nach dieser Viertelstunde für gut befunden wurde, wird anschliessend auf einer grossen Tafel an der Wand festgehalten.

Pro Tisch präsentiert anschliessend ein Sprecher oder eine Sprecherin dem Plenum die Ergebnisse. Danach schreiten die Teilnehmenden zur Abstimmung. Statt Stimmzettel verteilen sie farbige Punkte, die sie an jene Ideen kleben, die sie am meisten überzeugt haben. Die Vorschläge mit den meisten farbigen Punkten schaffen es ins Programm der nächsten Lokalwahlen.

Ein Einziger im Raum bleibt unbeteiligter Beobachter der Vorgänge: Jean-Pierre Sueur, Gemeindepräsident von Le Mont-sur-Lausanne und als solcher Repräsentant eben jener repräsentativen Demokratie, deren Defizite die Bürgergruppe beseitigen will.

Sueur begrüsst deren Initiative, hat aber auch so seine Zweifel. «In diesen Workshops engagieren sich die Bürger, um zu diskutieren und nachzudenken. Einige Ideen aber werden fallen gelassen, was gewisse Frustrationen wecken könnte. Sicher kann man in der Politik nicht immer gewinnen, aber handelt es sich um lokale Probleme, äussern sich die Frustrationen viel stärker», sagt «Monsieur le Maire».

Moderne direkte Demokratie

Die Gruppe Le Mont citoyen ist gewissermassen aus zwei Petitionen heraus geboren, einer über die Abfallbewirtschaftung und einer über die vorschulische Betreuung der Kinder im Ort. Daraus wuchs die generelle Idee, die Bürger stärker in das politische Leben der Gemeinde einzubinden. Zweiter Gedanke war die eventuelle Verbreitung des Modells in weitere Gemeinden und Gebiete.

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«Wir wollen die Moderne in unsere Region und in die ganze Schweiz holen», sagt Philippe Somsky. «Wir sind eine Art Labor, obwohl dieser Bürger-Traum bereits an mehreren Orten auf der Weltkarte existiert. Wir versuchen, ein Stück Demokratie zu erfinden, das die Schwächen der repräsentativen und gar jene der direkten Demokratie ausbügelt.»

Die direkte Demokratie, also Volksinitiativen und Referenden, erlaubten es dem Volk zwar, sich regelmässig zu verschiedenen Themen zu äussern, und das sowohl auf der nationalen als auch kantonalen und kommunalen Ebene. Für Philippe Somsky taugt dies aber nicht als Allerwelts-Heilmittel.

«Um Initiativen oder Referenden zu starten, braucht es einen starken Rücken und einen dicken Geldbeutel. Es sind meist die grossen Parteien und die mächtigen Lobbys, die so ihre Forderungen aufstellen können. Nun fordern wir, dass die Bevölkerung zu Themen des Alltags systematisch eingebunden werden soll.»

Ureigenste Bürgerinteressen

Die Teilnehmer sehen das teilweise viel pragmatischer. «Ich bin aus rein egoistischen Motiven hier, denn ich bin stark von einem Lärmproblem betroffen», sagt etwa Jean-Pierre. Und Marcel, ein anderer Teilnehmer, sagt frei und frank: «Ich will wissen, was in der Gemeinde passiert. Und ich will andere Leute treffen.»

Ein Unterschied zwischen dem neuen Forum, das immerhin für sich in Anspruch nimmt, alle Bürger des Westschweizer Ortes zu repräsentieren, und einer Versammlung der grünen Partei, des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) oder jeder anderen Organisation aus dem linken Lager ist aber nicht auszumachen.

Die Themen, die am anschiessenden Apéro zu Reden geben, deuten weiter in diese Richtung: Ein Bürger stört sich lauthals daran, dass ein grosser Hersteller von Patronen für Tintendrucker für sich ein ökologisches Image reklamiert. Eine Frau wettert darüber, dass auf den Strassen der Gemeinde zu viele Geländewagen verkehrten, so genannte SUV.

Ist die Gruppierung Le Mont citoyen folglich einfach ein Ableger von Rot und Grün? Somsky stellt dies in Abrede. «Einige gehören zwar einer Partei an, aber die Mehrheit der Mitglieder weist keine Verbindung zur Politik auf. Es trifft zu, dass es oft Leute aus der Zivilgesellschaft sind, die sich am Anfang dafür stark machen. Jetzt geht es aber darum, eine maximale Grösse anzustreben. Wir wollen nicht eine Kleingruppe, eine Art Avantgarde bleiben, die damit endet, genau das zu tun, das all jene tun, die heute an den Hebeln der Macht sitzen.»

(Aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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