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Wenn Volksinitiativen auf Angst und Stereotypen setzen

Die Jungsozialisten haben vor dem Bundeshaus 117'000 Unterschriften für eine Initiative gegen Spekulationen mit Nahrungsmitteln deponiert. Reuters

Mehrere Volksinitiativen der letzten Jahre haben mehr oder weniger offensichtlich mit der Karte des ausländischen Sündenbocks gespielt. Soll man deshalb das Initiativrecht einschränken? Diese Frage sorgt in der Schweiz immer wieder und seit der Einführung dieses Instruments der direkten Demokratie für heftige Debatten.

«Die guten Seelen, die im neuen Verfassungsartikel humanitäre Tendenzen zu sehen glaubten und mit ihrer Stimmabgabe den Antisemiten in die Hände spielten, müssen feststellen, dass sie sich getäuscht haben. (…)  Es lag aber nicht daran, dass es keine Warnungen gab.»

Mit diesen Worten kommentierte die Tageszeitung  Journal de Genève am 20. August 1893 die Annahme einer Initiative von kantonalen Tierschutzvereinen. Mit dem von Bundesrat und Parlament zuvor bekämpften Verfassungsartikel wurde das Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung, also «das von Juden praktizierte Schächten», wie es die Gegner der ersten Volksinitiative der Schweiz betonten, verboten.

Diese Warnung, die sich in den Archiven des Journal de Genève findet, stammte von einem Komitee, das die Tierschützer damals als «Zoophile» bezeichnete: «Es darf nicht sein, dass das Initiativrecht, von dem heute zum ersten Mal Gebrauch gemacht wird, zu einem Instrument in den Händen einer Rasse gegen eine andere Rasse wird.»

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Vom gefährlichen Kommunisten zum Muslimen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Auf der einen Seite steht der Wille, die nationale Identität und Sicherheit zu verteidigen, auf der andern stehen Ausgrenzung, Xenophobie und die Notwendigkeit der Öffnung. Indem die politischen Akteure über die Ausländer definieren, was schweizerisch ist oder nicht, stellen sie die Ausländer ins Zentrum ihrer Kampagnen für oder gegen migrationspolitische Vorlagen.

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«Die Juden bestrafen»

Bei einem Teil der Initianten und Stimmenden sei es darum gegangen, «die Juden in der Schweiz zu bestrafen, die zuvor – vor allem auf Druck der USA und Frankreichs – vollwertige Staatsbürger geworden waren», sagt Johanne Gurfinkiel, Generalsekretär der Koordinationsstelle gegen Antisemitismus und Diffamierung (CICAD).

In den ersten Jahren nach 2000 wollte der Bundesrat das umstrittene Schächtverbot aus Gründen der Religionsfreiheit lockern. Weil sich aber eine heftige Debatte ankündigte, die sich diesmal diskriminierend gegen praktizierende Muslime zu richten drohte, verzichtete die Regierung darauf.

Ausländerfeindliche Initiativen

In den 1970er-Jahren haben mehrere Initiativen, die sich gegen die Einwanderung von Ausländern richteten, heftige Kampagnen ausgelöst. Die sogenannte Schwarzenbach-Initiative verlangte eine Begrenzung der Anzahl Ausländer in der Schweiz. «Nach einer hitzigen Debatte wurde sie 1970 vom Volk knapp verworfen», heisst es im Historischen Lexikon der Schweiz.

In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends waren die Ausländer erneut Gegenstand von Volksinitiativen, die fast immer von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lanciert oder unterstützt und von den anderen Regierungsparteien abgelehnt wurden. Die Kampagnen, die den Abstimmungen vorausgingen, hatten für die Ausländer zum Teil stigmatisierende Wirkung. Ein Gipfelpunkt wurde dabei mit der Initiative gegen den Bau weiterer Minarette erreicht, die im November 2009 von 57,5% der Stimmenden angenommen wurde.     

Ohne eine bestimmte Gemeinschaft ins Auge zu fassen, zeugt auch der Verfassungsartikel, der am 9. Februar 2014 angenommen wurde, um die Immigration mit Kontingenten zu bremsen, von einem Misstrauen gegenüber Europa und den Ausländern in der Schweiz. Das Abstimmungsresultat hat den deutschen Bundespräsidenten veranlasst, bei seinem Besuch in der Schweiz anfangs April eine Bemerkung zu machen. Er hoffe nicht und könne es sich auch nicht vorstellen, sagte Joachim Gauck in aller Öffentlichkeit, dass ein vielseitiges Land wie die Schweiz, das nie eine Diktatur zugelassen hatte, sich von Europa entferne.

Bei allem Respekt gegenüber dem Abstimmungsresultat vom 9. Februar warnte Gauck, dass die direkte Demokratie bei komplexen Themen, bei denen es für die Bürger schwierig sei, alle Verstrickungen zu verstehen, «eine grosse Gefahr» sein könne. Aus diesem Grund, so Gauck, sei Deutschland mit seiner Repräsentativen Demokratie zufrieden.

Die Antwort seines Schweizer Amtskollegen Didier Burkhalter liess nicht lange auf sich warten: «Die direkte Demokratie der Schweiz ist wie das Blut im Körper.»

Es gibt aber auch in der Schweiz Beobachter oder Politiker, die sich wegen der wachsenden Zahl von Initiativen sorgen, die mit der Angst und mit Stereotypen spielen.

14 Monate nach Inkrafttreten kam der Artikel über die Teilrevision der Bundesverfassung mittels Volksinitiative zum ersten Mal zur Anwendung, und zwar mit der Einreichung eines Textes über ein Verbot des rituellen Schlachtens von Tieren.

Im August 1893 wurde der Vorschlag vom Volk aus Tierschutzgründen, aber zum Teil auch aus antisemitischen Motiven, gutgeheissen.

Trotz des Starterfolgs wurde vom Initiativrecht in den folgenden 40 Jahren nur selten Gebrauch gemacht. Initiativen häuften sich während der Weltwirtschaftskrise und vor allem in den 1950er-Jahren (finanzielle, soziale und militärische Fragen).

Im ersten Jahrzehnt nach der Einführung der Zauberformel im Bundesrat nahm die Anzahl Initiativen ab, vervielfachte sich aber ab den 1970er-Jahren in einem Kontext, in dem die Konkordanz-Demokratie sowohl von der Rechten wie der Linken vermehrt in Frage gestellt wurde.

 

(Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz)

Initiativrecht einschränken?

Muss man künftig beim Initiativrecht Vorbehalte anbringen, um sich gegen fremdenfeindliche Tendenzen zu wappnen? Vor der «Gefahr, dass das Initiativrecht in den Händen von Demagogen als Instrument dienen oder einer kleinen, gut organisierten Gruppe einen exzessiven Einfluss verleihen» könnte, hätten Stimmen bereits bei dessen Einführung gewarnt, heisst es im Historischen Lexikon der Schweiz.

Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus weist in diesem Zusammenhang auf die filternde Wirkung des Parlaments hin: «Ein rassistischer oder diskriminierender Text wird für vom Parlament als ungültig erklärt. Dort findet eine Debatte darüber statt, ob eine Initiative internationales Recht verletzt oder internationalen Verpflichtungen der Schweiz widerspricht», sagt die ehemalige Nationalrätin der freisinnigen Partei (FDP.Die Liberalen).

«Eine Initiative kann Ausdruck eines irrationalen Klimas sein, das sich nicht zwingend auf das Thema selbst bezieht, sondern auf das, was es bei gewissen Leuten auslöst. Das ist auch schon früher vorgekommen. Die Demokratie ermöglicht es, Debatten anzustossen, die sich nicht durch das Gesetz kanalisieren lassen, ausser durch die Antirassismus-Strafnorm.»

Die Ratifizierung der Europäischen Konvention für Menschenrechte (seit 1974 in Kraft) und die Annahme der Antirassismus-Strafnorm (Artikel 261bis des Schweizerischen Strafgesetzbuchs) durch das Stimmvolk (1994, mit 54,7%) waren in der Tat Wendepunkte, zumindest für die Verteidiger der Menschenrechte.

Umstrittene Antirassismus-Strafnorm

«Bis 1974 waren die Grundrechte auf Verfassungsebene des Bundes und der Kantone nicht garantiert», sagt Professor Andreas Auer, der bis 2013 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich unterrichtete. Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechts-Konvention haben es die europäischen Staaten akzeptiert, auf diesem Gebiet nicht mehr souverän zu sein. Und dies zugunsten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. «Dass ein Bürger gegen seine eigene Regierung vor einer internationalen Instanz prozedieren konnte, war eine ausserordentliche Errungenschaft», sagt Andreas Auer.

Für Yves Nidegger, Parlamentarier der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die seit Jahren auf der Ausländer-Thematik surft, ist die Antirassismus-Norm hingegen überflüssig. «Ich habe nicht den Eindruck, dass der Artikel 261bis irgendetwas nützt. Er ist weder nötig, noch nützlich», sagt der Genfer Rechtsanwalt.

Ein Beweis dafür ist laut Nidegger das Urteil des EGMR, das die Verurteilung des türkischen Nationalisten Dogu Perincek in der Schweiz wegen Verleugnens des Völkermords an den Armeniern aufgehoben hat. Das Strassburger Gericht hat das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit in den Vordergrund gestellt, während sich das Eidgenössische Bundesgericht auf den Artikel 261bis stützte. Die Schweiz hat inzwischen entschieden, Rekurs gegen das Urteil einzureichen.

Vorsicht Willkür

Nach dem jüngsten Volksentscheid vom 9. Februar werden aber auch die Stimmen jener politischen Klasse wieder lauter, welche die Bedingungen des Initiativrechts verschärfen wollen.

Andreas Auer hat Zweifel gegenüber solchen Vorschlägen: «Falls diese Einschränkungen die Hürde der doppelten Mehrheit bewältigen sollten, stellt sich dann noch die Frage, wer die Einhaltung der neuen Beschränkungen überprüfen soll. Die Bundesversammlung als politisches Organ ist nicht in der Lage, dies zu tun. Aber um diese Kompetenz dem Bundesgericht zu erteilen, müsste man die Verfassung ändern.»

Martine Brunschwig Graf weist auf die abartigen Wirkungen einer verschärften Kontrolle des Initiativrechts hin: «Man kann eine Initiative nicht unter dem Vorwand verhindern, dass sie eine unerwünschte Debatte auslösen könnte, sonst fällt man in ein System der Zensur zurück, das der Willkür Tür und Tor öffnet.

In einem demokratischen System hat jeder Akteur – Initianten, Parteien, Gewählte, Medien – und alle, die an einer Abstimmungskampagne teilnehmen, die Pflicht, die Debatte in einem korrekten Rahmen zu führen.»

Laut Artikel 261bis des Strafgesetzbuchs wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft:

  • Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft,
  • wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind,
  • wer mit dem gleichen Ziel Propaganda-Aktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt,
  • wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,
  • wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion verweigert.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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