Wenn zwei «normale» Bürger ein AKW abstellen wollen
Die Atomkatastrophe in Japan, zwei Bürger, ihre Wut, eine Idee, die zur Tat wird, die Abstimmung: Das ist die Geschichte der Volksinitiative "Mühleberg vom Netz", die Franziska Herren und Walter Kummer aus Wiedlisbach lancierten. Der Kanton Bern stimmt am 18. Mai darüber ab.
Der Auslöser war tausende Kilometer weit entfernt: Der verheerende Tsunami, der am 11. März 2011 im japanischen Atomkraftwerk Fukushima eine Kernschmelze auslöste. Die freigesetzte radioaktive Strahlung vertrieb die Einwohner aus einer Zone mit 20 Kilometern Radius um das havarierte AKW.
«Danach war mir klar, dass ich etwas unternehmen musste, weil es so nicht mehr weitergehen kann», sagt Franziska Herren aus Wiedlisbach, einem
Städtchen am Fuss des Juras, 45 Kilometer Luftlinie vom Atomkraftwerk Mühleberg gelegen. Es ist eines der itältesten AKW der Welt und steht seit Jahren wegen Sicherheitsmängeln in der Kritik (siehe Box).
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«Wir sind erschrocken, wie wenig wir wussten»
Die 47-jährige Betreiberin eines Fitnesscenters und zweifache Mutter verfasste ein Flugblatt, mit dem sie ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Nachdenken über ein Leben ohne Atomkraftwerke aufrief.
Durch den Flyer aufmerksam geworden, meldete sich Walter Kummer bei Herren. Die Idee des 53-jährigen ehemaligen Leiter eines Metallbearbeitungs-Unternehmens: Eine kantonale Volksinitiative zur sofortigen Abschaltung des AKW Mühleberg zu lancieren. Die Beiden, die über keinerlei Erfahrungen oder Verbindungen mit dem etablierten Politbetrieb verfügten, entschieden, nun selbst in der Politik mitzumischen.
«Der Kanton, als Mehrheitsaktionär der BKW FMB Energie AG (der Betreiberin des Werkes, die Red.), sorgt für die sofortige Ausserbetriebnahme des AKW Mühleberg.»
Das verlangen die Initianten Franziska Herren und Walter Kummer in ihrer Volksinitiative «Mühleberg vom Netz».
Mühleberg ist das einzige Schweizer AKW, das sich mehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand befindet.
Auslöser der Volksinitiative war die Kernschmelze im März 2011 im japanischen AKW Fukushima nach einem Tsunami samt verheerenden Folgen für Menschen und Umwelt.
Regierung und Parlament des Kantons Bern empfehlen die Initiative zur Ablehnung.
Unabhängigkeit als Must
«Wenn man sieht, was in Tschernobyl und Fukushima passiert ist und welche Folgen die Katastrophe dort für Menschen und Umwelt hatte, muss man nicht mehr über Sicherheit diskutieren», sagt Franziska Herren.
«Also mussten wir handeln und sind buchstäblich ins kalte Wasser gesprungen». Dem Gesetz über politische Rechte im Kanton Bern entnahmen sie, dass ein Initiativkomitee mit mindestens sieben Mitgliedern nötig ist. Fünf angefragte Personen sagten innert Kürze zu.
«Uns war sehr wichtig, dass alle Mitglieder des Initiativkomitees unabhängig sind. Wir gehören nicht zu den Hartgesottenen, die seit 40 Jahren die Stilllegung des AKW Mühleberg fordern», macht Herren klar.
Die Gegner haben sich in einem Kontra-Komitee formiert, dem Vertreter der bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft angehören.
«Unnütz. Teuer. Überstürzt», lauten ihre Hauptargumente.
Die BKW wolle das AKW Mühleberg sowieso 2019 abschalten, so ihr Hauptargument.
Müsste das AKW sofort stillgelegt werden, drohten Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe.
Dazu benötige die Stilllegung eines AKW eine gute Vorbereitung und deshalb Zeit.
Juristisch wasserdicht
Während sie die Medienarbeit und das Netzwerken übernahm, vertiefte sich Kummer weiter in die juristische Materie, damit der Initiativtext hieb- und stichfest war. Tatsächlich hielt dieser im Kantonsparlament allen rechtlichen Anzweiflungen seitens der bürgerlichen AKW-Befürworter stand. Zudem finanzierte Kummer die Kampagne und zahlte Herren einen Teil des Lohns, weil sie bis zur Abstimmung den Betrieb ihres Fitnesscenters einschränkte.
Das erste Hindernis taucht auf: Die Sammelfrist für die benötigten 15’000 Unterschriften für das Zustandekommen einer kantonalen Initiative beträgt nur sechs Monate statt der 18, die für eidgenössische gelten. Hier braucht es aber auch 100’000 Unterschriften.
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Reinfall Online-Unterschriften
Der Auftakt geriet zum veritablen Flop. «Wir starteten mit der Idee, die Unterschriften online zu sammeln. Aber nach drei Wochen war uns klar, dass das nicht funktioniert», sagt Herren. Deshalb hätten sie auch professionelle Unterschriftensammler eingespannt. Jetzt ging es rassig: «Innert dreier Monate hatten wir 17’500 Unterschriften beisammen, von denen rund 15’500 gültig waren», sagt Walter Kummer – die Initiative stand.
Zum Erfolg trugen sie aber auch selber viel bei. Ausgerüstet mit Zylinderhüten, auf denen sie kleine Plakate mit der Aufschrift «Initiative Mühleberg vom Netz» befestigten, sammelten die beiden rund 6000 Unterschriften. Als eher zurückhaltende Menschen hätten sie sich für eine defensive Sammelstrategie entschieden, so Herren. Sie sprachen die Leute nicht direkt an, sondern warteten, bis diese auf sie zugingen.
Sehr geholfen hat ihnen laut Herren auch die leichte Verständlichkeit der Botschaft. «Das Ziel der Initiative ‹Mühleberg vom Netz› ist sofort klar.» Dies im Gegensatz zu Initiativen mit abstrakten Titeln und noch komplexeren Inhalten. Insbesondere auf eidgenössischer Ebene können solche die Stimmbürger an den Rand der Überforderung bringen.
Mühleberg bei Bern ist mit seinen 44 Betriebsjahren eines der ältesten AKW der Welt.
Wegen gravierender Sicherheitsmängel fordern Kritiker seit Jahren die Stilllegung des AKW nahe der Hauptstadt Bern.
Wichtigste Mängel: Risse im Kernmantel, Notkühlung, Erdbebensicherheit, Überflutungsrisiko.
Nach Fukushima verpflichtete das Eidgenössische Nuklearsicherheits-Inspektorat (Ensi) die BKW zu Nachrüstungen von 400 Mio. Franken. Andernfalls würde die Abschaltung des AKW Mühleberg auf 2017 verfügt.
Die BKW will das AKW 2019 «aus wirtschaftlichen Gründen» abschalten, bis dahin nur 15 Mio. Franken in zusätzliche Sicherheit investieren.
Die Antwort des Ensi dazu steht noch aus.
In der Schweiz gibt es total fünf AKW: Mühleberg, Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt.
Sie decken rund 40% des Schweizer Strombedarfs ab.
Staatsbürgerliche Ernüchterung
Was bedeutete es für sie als Bürger, eine Initiative zu lancieren und erfolgreich an die Urne zu bringen? «Man muss sehr viele Informationen sammeln. Dabei wurde uns auch bewusst, wie viel wir nicht wussten, teilweise waren wir gar richtiggehend geschockt», erzählt Herren. «Beispielsweise darüber, dass keine Versicherung gegen Schäden im Falle einer AKW-Katastrophe existiert.» Zwar würden die AKW-Betreiber im Katastrophenfall mit einer Milliarde Franken haften. «Aber die Bevölkerungsdichte ist in der Schweiz viel höher als in Fukushima», argumentiert Kummer. Herrens Quintessenz: «Viele wissen nicht, wie wenig sich gewisse Leute um unser Wohlergehen kümmern.»
Die Initiative war für beide ein Lernprozess, nicht nur betreffend Politikverständnis, sondern auch, was die Persönlichkeitsbildung angeht. Letzteres trifft insbesondere für die exponiertere Franziska Herren zu.
«Es war für mich eine grosse Herausforderung, auf einmal als Initiantin in der Öffentlichkeit zu stehen. Dank der Initiative habe ich gelernt, vor Menschen hinzustehen und zu argumentieren, ihnen aber auch zuzuhören.»
Hier kam ihr sehr entgegen, dass sich die Staatskanzlei die volle Frist von eineinhalb Jahren Zeit liess, um die Initiative dem Kantonsparlament vorzulegen. «So hatte ich Zeit, in Sachen Argumentation sattelfest zu werden. Wären es nur sechs Monate gewesen, hätte ich den Gegnern nicht viel entgegensetzen können», sagt Herren. Normalerweise liegt es im Interesse von Urhebern, dass die Behörden ihre Initiativen möglichst rasch zur Abstimmung bringen.
Selbstsicherheit als Gewinn
Die gewonnene Sicherheit werde ihr auch im weiteren Leben nützen. Beispielsweise im Zusammenhang mit einer Volksinitiative für sauberes Wasser, die Herren angedacht hat. «Ich musste aber auch lernen, dass die Meinungen jener, die nicht mit uns einverstanden sind, nicht gegen mich persönlich gerichtet sind.»
Dass die Behörden die volle Frist beanspruchten, spielte ihnen noch auf andere Weise in die Hände. «In dieser Zeit hat sich der Strommarkt in Europa stark gewandelt. Dank des günstigen Wind- und Solarstroms aus Deutschland herrschte auf einmal ein Überangebot», so Walter Kummer. Sofort fuhren sie ihre Kampagne fortan unter dem Motto «Es hat genug Strom!».
Für den 18. Mai sind die beiden zuversichtlich. Ein Grund dazhu sind die zahlreichen «sehr positiven Reaktionen» bei der Unterschriftensammlung.
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