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Wie der Schweizer Einsatz für die Dörfer im stalinistischen Rumänien nachwirkt

Person auf dem Podium, die sich an ein Publikum wendet, mit Fahnen im Hintergrund.
Bogdan Mazuru, der rumänische Botschafter in der Schweiz, während seiner Rede in der Turnhalle in Nendaz. Kira Kynd

Über 200 Schweizer Gemeinden «adoptierten» einst Dörfer im Rumänien des Ceausescu-Regimes, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Eine Reportage von der letzten Versammlung des OVR-Suisse, bei der auch die Wahlen in Rumänien Thema waren.

An einem Samstagnachmittag im November haben die vielen Wahlen in Rumänien auch in einer Turnhalle im Westschweizer Dorf Nendaz zu reden gegeben. «An drei Wochenenden hintereinander wird gewählt. Ist das Demokratie?», sagt Pascal Praz an einem Rednerpult in der Turnhalle, «Wahrscheinlich ja.» Im Wort «wahrscheinlich» steckt eine feine Kritik.

Dass das Verfassungsgericht von Rumänien die Präsidentschaftswahlen Externer Linkwegen Verdachts auf russische Einflussnahme wiederholen lassen wird, konnte Wochen vor dem ersten Wahlgang noch niemand ahnen.

Doch schon im Vorfeld der Wahlen 2024 gab es in Rumänien eine Diskussion über die Demokratie: Manche hielten es für ein machtpolitisches Manöver der Regierung, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an aufeinanderfolgenden Wochenenden stattfinden.

Pascal Praz ist Präsident von Opération Villages Roumains Suisse (OVR-Suisse). Der Verein OVR-Suisse hat sich in den 1980er-Jahren formiert und hat sich nun im November 2024 zur feierlichen Auflösung versammelt.

Mann in kariertem Hemd und Jeans steht an einem sonnigen Ort mit Bäumen im Hintergrund.
Pascal Praz ist der letzte Präsident von Opération Villages Roumains Suisse. Kira Kynd

Solidarität mit Dörfern in Nicolae Ceausescus Diktatur

OVR-Suisse ist ein Beispiel, wie man sich von einer westeuropäischen Demokratie aus auf der lokalen Ebene für die Bewohner:innen eines abgeschotteten, neostalinistischen Staates einsetzen konnte. Das Engagement wurde im postkommunistischen Rumänien der 1990er-Jahren wohl noch wichtiger.

Über 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur von Nicolae Ceausescu, nachdem sich die Partnerschaften zwischen Schweizer und rumänischen Dörfern jahrzehntelang intensiviert haben, löst sich der OVR-Suisse als Dachorganisation auf.

OVR
Die Freundschaftserklärung der Schweizer Gemeinde Moutier und Chiril, einem kleinen Dorf in Nordrumänien. zVg OVR-Suisse

An der letzten OVR-Suisse-Versammlung kam es zu keiner Kontroverse über die aktuelle rumänische Politik. Im Fokus steht anderes. «Auch nach den Wahlen in Rumänien wird die Partnerschaft mit den Schweizer Gemeinden weitergehen, da bin ich mir sicher», sagt Bogdan Mazuru, der rumänische Botschafter in der Schweiz. Gegenüber den rund 50, vor allem älteren Anwesenden würdigt Mazuru das Wirken von OVR-Suisse.

Im Publikum sitzt auch die rumänische Schriftstellerin Florina Ilis. «Ich hoffe, die Wahlen werden gut verlaufen und alle ihre eigene Entscheidung treffen», sagt sie. Was sie unter «gut» versteht, lässt Ilis bewusst offen.

Person in grauem Blazer und lila Pullover steht im Freien.
Florina Ilis ist rumänische Schriftstellerin und arbeitet heute in der Universitätsbibliothek von Cluj-Napoca, wo ein Archiv der OVR-Suisse angelegt werden soll. Kira Kynd

Als die Bulldozer in Rumänien auffuhren

Als 1988 in den Dörfern Rumäniens die ersten Bulldozer auffuhren, um die Umsiedlung der Landbevölkerung zu vollstrecken, war Florina Ilis 20 Jahre alt. «Meine Grosseltern wären den Umsiedlungsplänen zum Opfer gefallen, hätte die Revolution 1989 nicht auch der Systematisierung ein Ende gesetzt», erzählt Ilis. In die Schweiz mitgebracht hat sie ihren Roman «Le Livre des nombres» von 1997.

Darin schildert sie das von Unterdrückung geprägte Leben rumänischer Bauern über vier Generationen hinweg – und den Alltag Ende der 1980er-Jahre in jenen Dörfern, die in der Vorstellung Nicolae Ceausescus nicht mehr hätten existieren dürfen.

Eindrücke aus dem dörflichen Rumänien, als OVR-Suisse aktiv geworden ist. Aus dem Archiv von OVR-Suisse:

Die 56-Jährige spricht mit SWI swissinfo.ch in dieser Turnhalle in Nendaz, die hergerichtet ist wie für ein Dorffest. An der Wand hängen die Fahnen Rumäniens, der Schweiz und jene der Gemeinde Nendaz und der Gemeinde Gherla im rumänischen Siebenbürgen, die eine Partnerschaft verbindet.

Die rumänischen Dörfer vor der Vernichtung zu retten – das war das Vorhaben, das 1988 zur Gründung der «Opération Villages Roumains» in Brüssel führte.

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Fast die Hälfte der rumänischen Dörfer sollte zerstört werden

Ein in den 1970er-Jahren entworfenes Programm zur «Systematisierung der Dörfer» sollte Rumänien bis 2000 zu einer «umfassend entwickelten sozialistischen Gesellschaft» machen, wie Staatspräsident Nicolae Ceausescu auf einer Rede 1988 verlauten liess. In Wirklichkeit bedeutete das: Zerstörung fast der Hälfte der 13’000 rumänischen Dörfer, Umsiedlung der Bewohner:innen in Blocksiedlungen in neu errichteten «agroindustriellen» Zentren.

Gerade die im ländlichen Gebiet Siebenbürgens stark vertretene ungarische Minderheit, aber auch die Rumäniendeutschen wären von der Systematisierung betroffen gewesen. Selbst im sozialistischen Ungarn wurde von staatlicher Seite Einspruch erhoben.

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Ein Jahr bevor im Dezember 1989 das Präsidentenpaar vor den Augen der Weltöffentlichkeit erschossen wurde, regte sich internationaler Widerstand gegen die Pläne.

Jene exilierten rumänischen Oppositionellen, Journalist:innen und Intellektuellen, die gegen das Vorhaben Ceausescus zunächst in Brüssel die Protestbewegung OVR gründeten, trugen diese auch in die Schweiz.

Bewegung der französischsprachigen Länder

Wegen der lateinischen Sprachverwandtschaft und der Frankreich-Orientierung rumänischer Intellektueller war die OVR vor allem in den frankophonen Ländern relevant.

«Die Stimmung in der Westschweiz war damals ähnlich wie 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte», sagt Rose-Marie Koch, die Sekretärin der OVR-Suisse.

Vor allem Fernsehreportagen wie «Die rote Katastrophe» aus Belgien rüttelten auf. In geheim gemachten Aufnahmen zeigte der Film die Armut der Landbevölkerung und deren Vertreibung infolge der «Systematisierung». Von «Rumänisierung» ist im Film die Rede, von «Kulturverbrechen», die eine ganze Lebensweise vernichten würden – darunter Kirchen und eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit in der Landwirtschaft.

Frau im Pullover steht draussen an einer Heckenwand.
Rose-Marie Koch arbeitet Ende der 1980er-Jahre als Sekretärin für den Rat der Gemeinden und Regionen Europas. Kira Kynd

OVR-Suisse gegen den drohenden «Ethnozid»

Der OVR-Suisse sprach später gar von einem «Ethnozid», der gedroht habe. «Die belgischen Filme waren damals ein Schock für uns», sagt Rose-Marie Koch.

Ende der 1980er-Jahre arbeitete sie als Sekretärin für den Rat der Gemeinden und Regionen Europas. Auf einmal erhielt sie unzählige Anfragen von Gruppen und Organisationen wie der Schweizer Liga für Menschenrechte, die nach den Adressen aller Gemeinden fragten, um die Dörfer zu «adoptieren».

Koch gab die Adressen heraus. «Alle waren sehr enthusiastisch, es war ein Feuer der Solidarität», sagt Rose-Marie Koch. Die Hilfe sei nicht antikommunistisch motiviert gewesen. «Wir haben immer aus humanitären Gründen gehandelt, nie aus politischen.»

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Die entstandenen Partnerschaften – dies streichen in Nendaz viele heraus – funktionierte als Solidarität von Dorf zu Dorf. Zwischen jenen also, die im Verlauf der Umwälzungen der Geschichte oft vergessen gehen. Auch in der regelmässig erscheinenden Zeitschrift der OVR-Suisse ist die ländliche Welt und deren Anpassung an die politischen Veränderungen der Zeit ein Fokus.

Über 200 Schweizer Gemeinden adoptierten rumänische Dörfer

«Die Opération Villages Roumains ist eine untypische Bewegung», sagt Hubert Rossel, Vizepräsident von OVR-Suisse, «Wir sind keine Funktionäre, sondern Leute aus der Mitte der Bevölkerung – in allen Ländern, die beteiligt waren.»

Die Schweizer Aktivist:innen schrieben in den 1980er-Jahren Protestbriefe und Postkarten nach Rumänien oder an die rumänische Botschaft in der Schweiz. Auch Rossel habe eine Karte geschickt. «Wir schrieben, dass wir von den Zuständen erfahren haben, dass wir dagegen protestieren. Mit Unterschrift.» Manche nannten ihren Namen nicht. Aus Angst vor der Geheimpolizei Securitate. «Aber die rumänische Post kam wegen den Briefen aus allen Ländern nicht mehr nach. Somit war das Ziel erreicht: Sie mussten zugeben, dass etwas nicht in Ordnung war.»

Briefvorlage OVR Suisse Rumänien
Die vorgedruckten Postkarten richteten sich zum Teil direkt an Nicolae Ceausescu. Sie waren in äusserst respektvollem Stil formuliert. zVg OVR-Suisse

Weitere Briefe schickten die Aktivist:innen an den Bundesrat und Gemeinden, die sie aufforderten, ebenfalls an Ceausescu zu schreiben – und dazu, rumänische Dörfer symbolisch zu adoptieren. Mehrere Tausend schweizerische, belgische und französische Gemeinden sagten zu, darunter über 200 aus der Schweiz.

Die Freiheit nach Ende des Ceausescu-Regimes

Ilis Grosseltern erhielten nach Ende des Ceausescu-Regimes jenes Land wieder zurück, das 1947, zu Beginn des Kommunismus, kollektiviert wurde. «Sie waren sehr zufrieden und ich ebenfalls. Weil wir die Freiheit gewannen und endlich ausreisen durften», erinnert sich Ilis an die 1990er-Jahre.

In Rumänien geblieben ist Ilis trotz der neuen Freiheit. Sie arbeitet heute in der Universitätsbibliothek von Cluj-Napoca, wo ein Archiv der OVR-Suisse angelegt werden soll. Auch darüber wird in Nendaz gesprochen. Das Archiv soll vorwiegend aus Fotobeständen von Aktivist:innen bestehen, die in den ersten Jahren des postkommunistischen Rumänien medizinische Hilfe, Lebensmittel und Kleider in die Dörfer brachten.

«Diese Dokumente sind ein wichtiger Teil rumänischer Zeitgeschichte», sagt Ilis. Denn in der Zeit nach der Rumänischen Revolution waren Fotoapparate im ländlichen Raum kaum vorhanden. Die Bilder der OVR-Gruppen geben Einblick in die Dörfer nach der Wende.

Ein Mann in einem gestreiften Hemd mit einem Abzeichen steht an der Aussentreppe.
Hubert Rossel ist Vizepräsident von OVR-Suisse. Er sagt: «Die Opération Villages Roumains ist eine untypische Bewegung. Wir sind keine Funktionäre, sondern Leute aus der Mitte der Bevölkerung – in allen Ländern, die beteiligt waren.» Kira Kynd

Unterstützung im postkommunistischen Rumänien

Einige der Bilder kommen von Hubert Rossel. Anfang der 1990er-Jahre stieg er in das Auto von Verwandten und fuhr in ein Dorf in Rumänien, wie er in Nendaz erzählt. «Als ich die Bedingungen der Menschen sah, war ich schockiert», sagt der heute 81-jährige Historiker und Geograph über seine Erlebnisse. «Die Leute waren krank, es gab einen Mangel an allem.» Die Forderung an seine Gemeinde, dass sie eine Partnerschaft mit einem der Dörfer aufnehmen und Hilfskonvois losschicken sollte, blieb unbeantwortet. Also beschloss er, selbst aktiv zu werden. Das nächste Mal fuhr Rossel mit einem Hilfskonvoi in die Region.

Die OVR-Suisse vermittelte alte Militärfahrzeuge aus der Ex-DDR, um sie in Rumänien als Schulbusse einzusetzen – vor allem in abgelegenen Dörfern. Später gründete man 12 Feuerwehrzentren und lieferte Fahrzeuge.

«Eine Bewegung der Dörfer»

«Die OVR war eine Bewegung der Dörfer», sagt der rumänische Botschafter in der Schweiz in seiner Rede in Nendaz. Einfache Menschen aus der Schweiz, Belgien und Frankreich hätten einfachen Menschen in Rumänien geholfen, ihre Traditionen und Kultur zu bewahren. «Heute braucht Rumänien keine humanitäre Hilfe mehr. Aber Freundschaft. Wir können voneinander lernen.»

Der Präsident der OVR-Suisse Pascal Praz pflichtet bei. Und betont: «Wir haben die Dörfer damals nicht gerettet. Die Menschen haben sich selbst befreit und wir haben sie dabei unterstützt.»

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35 Jahre später scheinen die OVR-Vereine ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Trotz der beschlossenen Auflösung von OVR-Suisse sollen die Projekte aber weitergehen, wie mehrere Mitglieder beteuern. Auch in Frankreich und Belgien beginnen sich die Vereine aufzulösen, wie mehrere Mitglieder in Nendaz sagen, die nun Dankesreden halten, Gläser erheben und Blumensträusse verteilen, statt grosse Pläne zu schmieden.

Publikum bei einer Präsentation in einer Turnhalle mit Flaggen an der Wand.
Rund 50 Teilnehmer:innen sind zur Vereinsauflösung zusammengekommen. Kira Kynd

Werden Rumäniens Dörfer von der Politik gehört?

Heute ist Rumänien Mitglied der Europäischen Union, wirtschaftlich stabiler. Humanitäre Not gehört nicht mehr zu den grossen Problemen, sondern Korruption, Desinformation – und auch «dass die Dörfer nicht involviert sind in die Politik». Das findet zumindest der rumänische Historiker Cosmin C. Rusu, der ebenfalls nach Nendaz gereist ist.

«Man bekommt von der Politik etwas mit, wenn man Wahlen abhält. So wie jetzt. Danach hört man vier Jahre nichts mehr», sagt Rusu weiter. Die Politik solle sich seiner Meinung nach auch auf den ländlichen Raum ausrichten. Damit die Dörfer, die einst vor der Auslöschung standen, stärker Teil des politischen Prozesses werden.

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