Wie die Schweiz-Georgische Kulturszene auf einen Sieg der Opposition hofft angesichts des «Agentengesetzes»
Nach Grossprotesten und neuen autoritären Gesetzen wählt Georgien am 26. Oktober ein neues Parlament. Die Annäherung an Russland bedroht auch die Kulturszene und mit ihr viele Projekte des schweizerisch-georgischen Netzwerks, einem Beispiel für transnationale Zivilgesellschaft.
Wenn Alexandre Kordzaia, genannt Kordz, nach einem seiner Konzerte in Georgien von der Bühne tritt, spricht ihn in diesen Wochen nicht selten ein Politiker an. Auch solche von der prorussischen Regierungspartei Georgiens. «Obwohl klar ist, dass ich oppositionell bin», sagt Kordz.
Der Schweizgeorgier lebt und wirkt seit einigen Jahren wieder in Georgien. Die Hinwendung des Landes zu Russland bringt ihn aber vor die Frage, ob er in die Schweiz zurückkehren muss.
Denn Georgien steht vor entscheidenden Wahlen – nach einer Reihe neuer autoritärer Gesetze und grossen Protesten. Die Kulturschaffenden sind wichtig in diesem Wahlkampf, der als Kulturkampf zwischen westlicher und «traditioneller Lebensweise» inszeniert wird, wie es die Regierungspartei formuliert. Allem Anschein nach funktioniert die Strategie: Die Regierung unter dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili führt in den Umfragen.
Die Regierung will das Land in die russische Einflusssphäre führen. Die Opposition hingegen möchte den Beitritt zur Europäischen Union. In Georgiens Kulturszene ist für viele besonders das deutschsprachige Ausland wichtig. Das geht bis ins 19. Jahrhundert zurück.
Traditionsreiche Verbindungen mit dem deutschen Sprachraum und der Schweiz
Die deutsche Minderheit in Georgien war lange Zeit gross. «Das Erlernen von Deutsch hat Tradition, und Studienaufenthalte im deutschsprachigen Raum sind seit dem 19. Jahrhundert sehr populär», sagt Sandra Frimmel, Kunsthistorikerin am Slawischen Seminar der Universität Zürich.
Auch Schweizer Emigrant:innen zog es im 19. Jahrhundert nach GeorgienExterner Link – ab 1863 auch in eine eigene Auswandererkolonie.
Seit Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Georgiens 1991 engagiert sich die offizielle Schweiz im Land, unter anderem im Bereich der Demokratieförderung.
Das dichte Netzwerk zwischen Zürich und Tiflis
Doch laut Elene Chechelashvili von der Georgischen Kulturplattform Zürich finde der bedeutendere Austausch auf privater Ebene statt. Der Kulturaustausch mit der Schweiz ist gross.
Es gibt in Zürich ein Netzwerk aus schweiz-georgischen Kooperationen: Stiftungen, Bildungsprojekte, Festivals, Kollaborationen in Film und Literatur. Doch mit Georgiens Annäherung an Russland sehen viele Akteur:innen zwischen Zürich und Tiflis diesen Austausch auf der Kippe. Sie machen sich grosse Sorgen.
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Demokratieförderung konkret: das Beispiel Georgien
Unter dem Titel «Georgian Dreams» organisiert die Kunsthistorikerin Sandra Frimmel in der Woche vor den Parlamentswahlen eine georgische Filmreihe und Gespräche in Zürich. Einer der gezeigten Filme wurde 2022 von der Georgischen Filmakademie verboten – er spalte die Leute und sei «zu politisch», war damals die Begründung. Ein einmaliger Vorgang seit 1991, der zeigt, dass die Filmsparte mit Zensur konfrontiert ist von dieser Regierungspartei, die auf Englisch «Georgian Dream» heisst.
«Die Regierung versucht schon seit mehreren Jahren, die gesamte Kultur auf eine regierungstreue Linie zu bringen und diese Linie orientiert sich stark an russischen Werten», sagt die Kunsthistorikerin Frimmel.
Neue autoritäre Gesetze in Georgien «im Schnelldurchlauf»
Seit die neue Kulturministerin Tea Tsulukiani 2021 ihr Amt angetreten hat, wurden die Leitungspositionen der staatlichen Kulturinstitutionen nach und nach ausgewechselt. Ausserdem lässt die Regierung Archive schliessen, um Forschung zu torpedieren. Dies hat Frimmel bei einem Aufenthalt selbst erlebt.
In ihrer Forschung befasst sich die Kunsthistorikerin unter anderem mit Gerichtsprozessen gegen Künstler:innen in Russland. Durch Urteile und Gesetzesänderung Anfang der 2000er-Jahre sind in Russland gewisse Themen in der Kunst zu Tabus geworden, so zum Beispiel Pornographie, religiöse Symbole und Homosexualität.
In Georgien beobachtet Frimmel nun eine analoge Entwicklung: Erst das Agentengesetz, dann ein Gesetz zur Einschränkung der Rechte von LGBTQ-Personen, jetzt der Versuch, das orthodoxe Christentum als Staatsreligion in die Verfassung aufzunehmen.
«Man sieht nun, wie die Gesetze der georgischen Regierung genau in der gleichen Reihenfolge wie in Russland eingeführt werden», sagt Frimmel. Aber in Russland dauerte das etwa 15 Jahre. «Georgien macht das alles im Schnelldurchlauf.»
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Countdown in Georgien: Der Einfluss der Schweiz schwindet
Die konkreten Auswirkungen davon auf die Kunst werde man erst nach den Wahlen erleben. Für Frimmel ist aber klar, dass Georgiens neues Agentengesetz die Kulturförderung aus der Schweiz und dem gesamten Ausland verunmöglichen werde.
Macht das «Agentengesetz» geförderte Künstler:innen zu ausländischen Agenten?
Im Mai 2024 verabschiedete Georgiens Parlament, begleitet von grossen Protesten, ein Gesetz über «Ausländische Agenten» nach russischem Vorbild. Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 20% ihrer Gelder aus dem Ausland beziehen, sollen als «ausländische Agenten» gelten. Noch ist unklar, wie das Gesetz umgesetzt wird. Doch Kordz fürchtet, dass es für oppositionelle Künstler:innen existenziell wird.
Staatlich geförderte Kultur gebe es in Georgien praktisch nicht, sagt Kordz. Künstler:innen seien finanziell entweder von privaten Stiftungen oder von Ticketverkäufen abhängig. Wie viele georgische Künstler:innen beantragt er Gelder von Förderinstitutionen im Ausland, oft auch aus der Schweiz, zum Beispiel von Pro Helvetia.
Erlangt die Regierung in den Wahlen eine deutliche Mehrheit, befürchtet Kordz und mit ihm viele, dass das Agentengesetz zu einem wichtigen Instrument der Repression gegen Oppositionelle wird. «Und die Musikszene hier ist zu 90% oppositionell», sagt er. Wer kritisch ist, erlebe schon heute Widerstände: Drei seiner Freunde aus der Kunstszene wurden nach Demonstrationen verhaftet, Komiker:innen und Journalist:innen auf der Strasse verprügelt. Drohanrufe seien normal für Künstler:innen, die sich positionieren.
«Niemand in Georgien möchte sich als ‹Agent› abstempeln lassen»
Bereits hält die russische Armee mit Südossetien und Abchasien 20% des georgischen Staatsgebietes besetzt. «Wir sind ein naheliegendes Opfer für Russland», sagt Kordz. In der Schweizer Kulturszene trifft er seit dem Krieg in der Ukraine jedoch manchmal auf die Annahme, dass an Russlands Aggression die NATO schuld sei.
Ob er darüber nachdenkt, in die Schweiz zurückzukehren? «Natürlich überlegt man sich das. Aber ich will hier bleiben. Denn in Georgien drehe ich in der Kunst nicht nur um mich selbst, sondern kann etwas bewegen.» So wie Anfang Oktober sein Konzert für «von der Regierung vernachlässigte Kinder» an der Grenze zum russisch besetzten Gebiet in Südossetien.
«Niemand in Georgien möchte sich als ‹Agent› abstempeln lassen», sagt Elene Chechelashvili von der Georgischen Kulturplattform in Zürich. «Warum sollte man auch, wenn man ein Tanz- oder ein Musikfestival organisiert?»
Das Gesetz verstärke den Druck auf die ganze Szene enorm. «Dabei sollte doch die Qualität der künstlerischen Leistung das wichtigste Kriterium sein und nicht die Meinung, die Position oder die Finanzierungsquelle der Künstler:innen.»
In Georgien seien einige Initiator:innen von Projekten eingeschüchtert. «Sie wollen sich auf keinen Fall als ‹Agent› registrieren lassen und riskieren damit die komplette Einstellung der Arbeit», sagt sie.
Unklarer Wahlausgang
Chechelashvili kennt Projekte, die gefährdet sind. Dennoch hoffen die Kulturschaffenden. «Jene, die ich kenne, blicken mit Hoffnung auf die Parlamentswahlen. Sie wollen, dass Georgien wieder auf dem Weg zu Europa und damit zur Demokratie und Freiheit zurückkehrt.»
Dass dies so kommt, ist unsicher. Die Wahlumfragen deuten auf einen Sieg der Regierungspartei. Doch gemäss Expert:innen sind Prognosen schwierig. Denn die Werte der oft parteinahen Umfrageinstitute gehen stark auseinander.
Weiter ist unklar, wie sich die Drohungen des Regierungslagers gegenüber der Opposition und die Druckausübung auf Staatsangestellte auswirkt.
Gewinnt die Regierung die Wahlen, könnte das Agentengesetz die Schweiz-Georgischen Kooperationen erschweren. Doch gleichzeitig würde das Schweizer Unterstützungsnetzwerk für die georgische Kulturszene dann vielleicht noch wichtiger – sofern man Wege findet, weiterhin Projekte in Georgien zu fördern.
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