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Wie viel Protest sollte ein demokratischer Staat akzeptieren?

Strassenblockade
Mitglieder der Gruppe "Act Now" blockieren den Verkehr auf der Schweizer Autobahn A2, 9. Mai 2024. Keystone / Urs Flüeler

Strassenblockaden, Sitzstreiks und Angriffe auf Kunstwerke durch Klimaprotestierende haben die Frage aufgeworfen, wo die Grenzen legitimer Protestaktionen liegen, in der Schweiz als auch in anderen Ländern. Die Gerichte haben sich bisher nicht nachgiebig gezeigt. Sollten sie?

Vor kurzem sassen zwölf Menschen in einem Raum in Zürich und planten ein Verbrechen. Sie würden frühmorgens in einen Baumarkt einbrechen, um sich Werkzeug zu «leihen», zum Paradeplatz fahren, dem Herz der Schweizer Bankenindustrie, dort den Boden mit einem Presslufthammer aufbrechen und einen Baum pflanzen.

Schliesslich würden sie die ankommenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der nahe gelegenen Grossbank UBS mit Infomaterial über den Klimawandel und die Rolle der Finanzwelt als dessen Mitverursacherin begrüssen.

Der Plan war ehrgeizig. Und er würde nie umgesetzt werden. Erdacht hatten ihn vielmehr neugierige Teilnehmende eines Workshops über «gewaltfreien zivilen Widerstand», der im Rahmen einer Konferenz des linken Thinktanks «Denknetz» stattfand.

Der von einem «Extinction Rebellion»- und «Debt for Climate»-Aktivisten moderierte Workshop wollte zeigen, wie viele Aspekte in der Planung einer solchen Aktion beachtet werden müssten. Wer fährt die Autos? Wie können wütende Passantinnen und Passanten beruhigt werden?

«Seid ihr bereit für die ‹emotionale Achterbahnfahrt›, die mit diesem Gesetzesbruch verbunden sein wird», fragte der Moderator: Und daran anschliessend: «Seid ihr bereit, die Konsequenzen zu tragen?»

Denn tatsächlich haben Polizei und Gerichte auf den im Kontext des Klimawandels wachsenden zivilen Widerstand spürbar reagiert.

Ein im vergangenen Monat von der Climate Rights International (CRI) Gruppe veröffentlichter BerichtExterner Link stellte fest, dass in acht westlichen Demokratien die offizielle Reaktion auf diese Proteste oft «unverhältnismässig» gewesen sei. Genannt wurden Australien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Neuseeland, Schweden, Grossbritannien und die USA.

Ein UNO-Bericht kam früher in diesem JahrExterner Link zu der gleichen Schlussfolgerung.

Ausgebremst im Gerichtssaal

Die Antwort des Staats kann verschiedene Formen annehmen, sagt Linda Lakhdhir, Leiterin der Rechtsabteilung der CRI.

Manchmal habe die Polizei exzessive Gewalt angewandt, um Proteste aufzubrechen und Aktivistinnen und Aktivisten festzunehmen, so Lakhdhir, allerdings ohne eine ernsthafte Strafverfolgung zu starten.

Anderswo, zum Beispiel in Deutschland, wurden Aktivist:innen-Organisationen direkt verfolgt, in einigen Teilen des Landes wird die «Letzte Generation» als kriminelle Organisation eingestuft.

Zuletzt, sagt Lakhdhir, haben einige Länder neue Gesetze verabschiedet, die schwere Strafen für Protestaktionen vorsehen. In Grossbritannien wurde ein Aktivist im Sommer für die Planung einer Strassenblockade zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das sei ein «beispielloses Urteil» in der Geschichte der Klimaprozesse, schreibt das CRI.

Sie sei überrascht über das Ausmass an Repressionen, das der Report zeige, sagt Lakhdhir, besonders da diese in Demokratien angewendet würden, die traditionell als Rollenvorbilder für den Respekt von Grundrechten gelten.

Menschenrechte gegen Gesetze

In der Schweiz häuften sich in den vergangenen Jahren Fälle von zivilem Ungehorsam, von Autobahn-Blockaden bis hin zu einem improvisierten Tennismatch in einer Filiale der Grossbank Credit Suisse.

Während die Schweizer Gerichte bisher nicht so streng waren wie jene in Grossbritannien, garantierte das Protestmotiv des schmelzenden Planeten dennoch keine Nachsicht.

Statt die Gefahr des Klimawandels oder die Versammlungsfreiheit als mildernde Faktoren zu betrachten, tendierten die Gerichte dazu, auf diese Fälle das Strafrecht anzuwenden, so eine Studie der Universitäten Bern und Lausanne aus dem Jahr 2023.

Laut Clémence Demay, Ko-Autorin der Studie, liegt dies darin begründet, dass Schweizer Richterinnen und Richter sich der Dynamik zwischen Strafrecht und Menschenrechten nicht bewusst seien oder sich schlicht nicht dafür interessierten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) habe bereits mehrfach Argumente angeführt, um gewaltfreie Aktionen auf der Grundlage des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu rechtfertigen.

Doch die Schweizer Richterinnen und Richter, die häufig auf eine Form des Rechts spezialisiert sind, seien «es nicht gewohnt, den Menschenrechtsaspekt zu berücksichtigen».

Für die Aktivistinnen und Aktivisten führt dies ausser in seltenen Fällen nicht zu einer Gefängnisstrafe, doch immerhin zu Geldstrafen und einem Eintrag ins Strafregister.

Graeme Hayes, Soziologieprofessor an der Aston University in Grossbritannien, sagt, dass dort der Graben zwischen Menschenrechten und Strafrecht noch breiter sei.

Er verfolgt solche Fälle seit einem Jahrzehnt und meint, dass der Schutz für gewaltlosen Protest immer weiter schwinde. Gerichte nutzten vermehrt den Vorwurf des «öffentlichen Ärgernisses», um Aktivistinnen und Aktivisten zu verurteilen, das sei in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen, sagt Hayes.

Darüber hinaus erweitern die Gerichte die Definition aus, was als «disruptiver» oder «gewalttätiger» Protest gilt. Im September wurden zwei Klimaaktivistinnen ,die 2022 ein Van-Gogh-Gemälde mit Suppe überschüttet hatten, in London wegen Sachbeschädigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, obwohl das Bild durch einen Rahmen geschützt war und nicht beschädigt wurde.

Diese auf staatlicher Gesetzgebung basierende Entwicklung, sagt Hayes, ermöglicht es den Gerichten, eine auf der Meinungs- und Redefreiheit aufbauende Verteidigung zu umgehen und härtere Urteile zu fallen. Die Tatsache, dass gewaltfrei Protestierende nun Gefängnisstrafen erhielten, sei ein «immenser Wandel», fügt er hinzu.

Dieser Wandel sei eine direkte Antwort auf die Klimabewegung und andere disruptive Bewegungen wie «Black Lives Matter». Er sieht darin aber auch den Versuch, «demokratische Räume zu verkleinern» um den Proteste zu ersticken.

Ziviler Ungehorsam: ein umstrittenes Konzept

Doch was zählt überhaupt als ziviler Ungehorsam? Abgesehen von der Übereinkunft, dass er gewaltfrei sein sollte, existiert wenig Konsens darüber, was ihn legitim macht.

Von Henry Thoreaus Essay aus dem Jahre 1849Externer Link gegen eine übermächtige Regierung bis zu Hannah Arendts Fokus auf zivilen UngehorsamExterner Link als Form kollektiven Handelns existiert ein breiter Raum für Interpretation.

Zum Beispiel: Übten Protestierende gegen Covid-19-Massnahmen zivilen Widerstand aus? Während der Pandemie wurden die vielen Versammlungen gegen staatliche Massnahmen von Menschen besucht, die mit allen möglichen Mitteln eine politische Entwicklung stoppen wollten, die sie als autoritär empfanden.

Manche wollten sich vielleicht einfach nicht impfen lassen, andere waren gegen die Einführung und Konsequenzen von Covid-Impfzertifikaten.

Demonstration
Kritikerinnen und Kritiker der Schweizer Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus versammeln sich in Bern, Oktober 2021. Keystone / Peter Schneider

Laut Demay liegt die Hauptunterscheidung darin, ob eine Handlung auf persönlichen Motiven basiert, die einem selber oder der eigenen Gruppe zugutekommen, oder auf umfassenderen Motiven, wie der Änderung einer ungerechten Situation oder eines ungerechten Gesetzes.

«Die Grenze zwischen beidem ist sehr politisch, und sie wird auch von verschiedenen Gruppen instrumentalisiert», sagt sie.

Diese Spannung spiegelt sich auch in den öffentlichen Debatten: Umfragen, Überschriften und Online-Kommentare zeigen, dass kaum jemand begeistert davon ist, wenn der morgendliche Weg zur Arbeit von auf der Strasse festgeklebten Menschen blockiert wird.

In Deutschland versuchte ein LKW-Fahrer im vergangenen Jahr zunächst einen Aktivisten gewaltsam von der Strasse zu zerren und fuhr ihn anschliessend anExterner Link. In Frankreich wurde der Begriff «Öko-Terrorist» selbst von der Innenministerin für Klimaschützerinnen und -schützer genutzt, die mit der Polizei zusammenstiessen.

Auch Schweizer Politikerinnen und Politiker zeigen wenig Sympathie. Während das rechte politische Spektrum von «undemokratischem» oder «unsozialem» Verhalten spricht, haben selbst die zum linken Flügel zählenden Grünen versucht, sich von den eher störenden Protesten zu distanzieren.

«Habt Ihr nicht schon genügend Rechte?»

Im Fall der Schweiz stellt sich die Lage durch das System der Direkten Demokratie noch komplizierter dar. Hier lautet ein typisches Argument der Richterinnen und Richter gegen zivilen Ungehorsam, dass dem Volk ja die Möglichkeit offenstehe, Initiativen und Referenden zu starten. Warum nicht Unterschriften sammeln, statt sich auf der Strasse festzukleben?

So einfach sei dies nicht, antworten Aktivistinnen und Aktivisten häufig. Zum einen handelten die Institutionen zu langsam angesichts der Klimakatastrophe. Zum zweiten stimmen weder die Bevölkerung noch das Parlament immer zum Schutz des Klimas ab.

Demay bezeichnet die Idee des demokratischen Zugangs als «Fiktion». Die Schweiz biete zwar eine breite Palette an Partizipationsmöglichkeiten. Doch finanzielle Faktoren und die Rolle von Interessengruppen führen dazu, dass nicht alle den gleichen Zugang haben.

Daher müsse «ziviler Ungehorsam eine wichtige Rolle als Erweiterung des Rechts auf Protest spielen, des immer schon zugänglichsten Rechts für alle jene, die nicht an der institutionalisierten Politik teilhaben können». Kurz gesagt: «Demokratie ist nicht perfekt, aber ziviler Ungehorsam kann dazu beitragen, sie weiter zu verbessern.»

Was kommt als nächstes für Klimaprotestierende?

Demay rechnet damit, dass die Dinge in der Schweiz sich verändern. Ihr liegen keine Daten für das vergangene Jahr vor, aber in der letzten Zeit hat sie einige Freisprüche auf der Basis von Menschenrechtsargumenten beobachtet.

Gerichtsberichte zeigen, dass einige Gerichte zumindest offen sind, über das Thema Klimawandel zu diskutieren, wenn auch nicht genügend, um die Anklage fallen zu lassen. Andere Fälle warten noch auf die Berufung, auch vor dem ECHR. Dort, sagt Demau, hätten die Tennis-Aktivistinnen und -Aktivisten aus Lausanne eine «echte Chance, zu gewinnen».

Menschen im Tennisdress in einer Bankfiliale
November 2018: Aktivistinnen und Aktivisten spielen Tennis in einer Filiale der Credit Suisse. Die Aktion richtet sich gegen Roger Federer, der in Werbekampagnen für die damalige Grossbank aufgetreten ist. Keystone / Martial Trezzini

Linda Lakhdhir vom CRI ist da vorsichtiger. Die einzige Tendenz, die sie im Moment ausmachen kann, ist, dass die Situation über verschiedene Länder hinweg «uneinheitlich» ist. In vielen Fällen werden Klimaaktivistinnen und -aktivisten von einem Gericht verurteilt, bevor ein anderes sie freispricht, oder umgekehrt.

Sie verweist auf einen Fall in Deutschland, wo ein 65-Jähriger Mann wegen der Teilnahme an einer Strassenblockade zu fast zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, obwohl er zuvor für die gleiche Aktion freigesprochen worden war.

Unterdessen sind Aktivistinnen und Aktivisten alles andere als positiv gestimmt. Nicht nur hat die Klimabewegung in den vergangenen Jahren an Momentum verloren, darüber hinaus erwähnen viele den «Abschreckungseffekt», die Angst vor physischen und psychischen Folgen von harten Polizeiaktionen und Strafverfolgung.

Ob diese Faktoren zivilen Ungehorsam wirklich schwächen, ist umstritten, manche schätzen, daraus könnten extremere Reaktionen entspringen. In der Schweiz dauert die Strategie des zivilen Ungehorsams jedenfalls an – und wird laut der Klimaprotest-Gruppe «Act Now», die auch Autobahnen blockiert, nicht so rasch verschwinden.

Editiert von Mark Livingston und Benjamin von Wyl, Übertragung aus dem Englischen: Petra Krimphove

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