«Wir können von der Schweiz lernen»
Viele Deutsche sehen die direkte Demokratie in der Schweiz als Hilfsmittel gegen die wachsende Politikverdrossenheit in ihrem Land. swissinfo.ch hat sich mit dem Innenminister von Baden-Württemberg über Bürgerbeteiligung und das Vorbild Schweiz unterhalten.
Der Sozialdemokrat Reinhold Gall, seit Mai 2011 Mitglied der Grün-Roten Landesregierung, ist schon lange der Meinung, dass Deutschland Einiges von seinem Nachbarland abschauen kann.
Um dem Unbehagen an der Demokratie zu begegnen, müssten Möglichkeiten für die Bürger erwogen werden, Entscheidungen direkter mitbeeinflussen zu können, sagt der Innenminister von des deutschen Bundeslandes Baden-Württemberg.
swissinfo.ch: Sie haben vor kurzem an einem Forum über direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung in Aarau teilgenommen. Brauchen die Deutschen «Nachhilfe» in Sachen direkter Demokratie?
Reinhold Gall: Nachhilfe halte ich nicht für das richtige Wort. Ich bin aber der Meinung, dass wir einiges von der Schweiz lernen können.
swissinfo.ch: Was gab den Ausschlag für dieses Treffen?
R.G.: Eine Rolle spielte sicherlich die Auseinandersetzung um das umstrittene Bahnhofprojekt «Stuttgart 21», aber nicht allein. Wir spüren ganz einfach, dass auch die Menschen bei uns im Land direkter an Entscheidungen beteiligt werden wollen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Dieser Wille zur Bürgerbeteiligung äussert sich quer durchs ganze Land und bei unterschiedlichen Projekten, nicht nur in Stuttgart.
Die neue Landesregierung hat versprochen, dass wir mehr Bürgerbeteiligung sicherstellen wollen. Da ist die Schweiz natürlich ein interessanter Ansprechpartner. Uns ist nicht unbekannt geblieben, dass die Schweiz in Sachen Bürgerbeteiligung weiter fortgeschritten ist als unser eigenes Land.
swissinfo.ch: Die kleine Schweiz mit ihren direktdemokratischen Spielregeln wurde früher von den Deutschen eher belächelt. Hat sich das Blatt gewendet?
R.G.: Ich glaube nicht, dass da einfach alle drüber gelacht haben. Ich selbst gehörte immer schon zu den Personen, die der Auffassung waren, dass wir Einiges von unserem Nachbarn abschauen können. Sicher mag es Leute geben, die über die Schweiz lächeln. Aber auch diese werden nun wohl umlernen müssen.
swissinfo.ch: Ihr Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, hat in der «NZZ» erklärt, dass es in Deutschland häufig die Politiker selbst sind, die Angst vor Bürgerentscheiden haben, weil sie als Parlamentarier einen Machtverlust befürchten. Teilen Sie diese Auffassung?
R.G.: Auf alle Fälle. Gerade deshalb müssen wir uns direkt mit denjenigen in Kontakt setzen, die andere Beteiligungsformen kennen, wie beispielsweise in der Schweiz. Da kann man solche Ängste, insofern sie vorhanden sind, möglicherweise ausräumen.
swissinfo.ch: Wiederspiegelt dieser Wille zu mehr Bürgerbeteiligung eine Krise der Demokratie in Deutschland?
R.G.: Ich würde da nicht von einer Krise der Demokratie sprechen. Ich sehe eher eine allgemeine Verdrossenheit in Bezug auf die Politik. Es geht jetzt um Möglichkeiten für die Bürger, Entscheidungen direkter mitbeeinflussen zu können.
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swissinfo.ch: Offenbar gibt es bereits Instrumente, doch die Hürden sind zu hoch, um diese Instrumente auch zu benutzen?
R.G.: In der Tat: Die Quoren sind bei uns sehr hoch. Für ein erfolgreiches Volksbegehren müssen beispielsweise in Baden-Württemberg ein Sechstel der Wahlberechtigten, was 1,25 Millionen Menschen entspricht, innerhalb von zwei Wochen unterzeichnen.
Es besteht also Reformbedarf. Unsere Landesregierung möchte daher die Unterschriftenhürden beim Volksbegehren und das Zustimmungsquorum bei der Volksabstimmung senken.
swissinfo.ch: Einige Skeptiker sagen, dass eine halbdirekte Demokratie wie in der Schweiz nur deshalb funktioniert, weil das Land so klein ist. Kann es daher von grösseren Ländern nicht übernommen werden?
R.G.: Das glaube ich nicht. Natürlich lässt sich das Schweizer Modell der Bürgerbeteiligung nicht einfach 1:1 übernehmen. Aber ich bin überzeugt, dass es ganz wesentliche Elemente gibt, die übertragbar sind. Und diese hängen nicht von Grösse und Einwohnerzahl eines Landes ab. Entscheidend ist, ob man das möchte oder nicht.
swissinfo.ch: Es fällt auf, dass in Deutschland der Ruf nach Bürgerbeteiligung laut wird, wenn eine Interessengruppe glaubt, ihre Anliegen damit durchbringen zu können. Doch anscheinend blenden diese Gruppen häufig aus, dass sie in einem Volksentscheid auch unterliegen können. Wo ist die «Kultur der Niederlage»?
R.G.: Auch ich habe in der Tat den Eindruck, dass die Beteiligungsformen immer nur dann gewünscht werden, wenn man gegen etwas mobil macht. Meiner Meinung nach machen Bürgerbeteiligungen aber nur dann Sinn, wenn man auch für etwas sein kann.
Man muss auch akzeptieren, dass die eigene Meinung keine Mehrheit gefunden hat. Genauso wie man sich vielleicht einmal nur still freuen sollte, wenn die eigene Meinung eine Mehrheit findet. Die Ausdrücke «Gewinner» und «Verlierer» gefallen mir nicht.
swissinfo.ch: Sicherlich werfen Sie auch einen kritischen Blick auf die Schweiz. In Sachen (In-)Transparenz bei der Parteienfinanzierung und von Abstimmungskampagnen dürfte das Schweizer Demokratiemodell kaum als Vorbild dienen.
R.G.: Ich möchte mich da ja nicht einmischen. Aber ich weiss, dass die Schweiz neben Schweden das einzige Land in Europa ist, das die Finanzierung von Parteien und Abstimmungskomitees nicht verbindlich geregelt hat.
Wie stark der finanzielle Einfluss von Firmen und vermögenden Einzelpersonen ist, lässt sich somit kaum erkennen. Das halte ich nicht für zeitgemäss.
swissinfo.ch: Abgesehen von der Bürgerbeteiligung geben in diesen Monaten auch immer wieder die bilateralen Beziehungen der Schweiz zu Deutschland zu reden. Stichwort Steuerstreit und Abgeltungssteuer. Wie sehen Sie als Vertreter der Rot-Grünen-Regierung im benachbarten Baden-Württemberg die aktuellen Beziehungen zur Schweiz?
R.G.: Abgesehen von den aktuellen politischen Streitthemen, neben dem Steuerstreit auch die Debatte um den Fluglärm durch den Flughafen Zürich, stufe ich die Beziehungen zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg als sehr gedeihlich ein – wovon ich mich auch bei meinem jüngsten Besuch überzeugen konnte.
Reinhold Gall (55) stammt aus dem Landkreis Heilbronn (Deutschland). Der Sozialdemokrat ist gelernter Fernmeldetechniker. Er begann seine politische Laufbahn 1984 in der Kommunalpolitik.
Bei der Landtagswahl 2001 wurde er erstmals in den Landtag von Baden-Württemberg (mit Sitz in der Landeshauptstadt Stuttgart) gewählt und zwei Mal bestätigt (2006, 2011); in der SPD-Landtagsfraktion besetzte er wichtige Positionen.
Nach den vielfach als «historisch» bezeichneten Landtagswahlen in Baden-Württemberg von 2011, die erstmals eine Grün-Rote-Regierung unter Führung eines grünen Ministerpräsidenten in einem deutschen Bundesland brachten, wurde Gall im Mai 2011 zum Innenminister ernannt.
Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
Der Name «Stuttgart 21» steht für ein im Bau befindliches Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart.
Kernstück ist der Umbau des historischen Stuttgarter Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof.
Das Projekt ist u.a. wegen seiner enormen Kosten sehr umstritten. Es fanden etliche Bürgerproteste statt, die teilweise in Gewalttätigkeiten endeten.
Am 28. September 2011 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg eine Volksabstimmung, die am 27. November 2011 stattfand. Rechtlich ging es um die Rücknahme der Landesbeteiligung an der Projektfinanzierung.
Eine Mehrheit von 58,9% der gültigen Stimmen sprach sich gegen die Gesetzesvorlage und damit für den Beibehalt der Landesfinanzierung des Projektes aus.
Die Auseinandersetzung um «Stuttgart 21» ist zum Sinnbild einer Krise bei der politischen Bürgerbeteiligung geworden.
Die neue Landesregierung in Stuttgart hat sich daher mehr Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungs-Prozessen auf die Fahne geschrieben.
Neben Stuttgart 21 ist auch die Verdoppelung der Bahngleise am Oberrhein (Karlsruhe-Basel) ein äusserst umstrittenes Bahnprojekt.
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