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Wird Claudia Sheinbaum in Mexiko den Einsatz gegen Gewalt an Frauen zur Priorität machen?

Claudia Scheinbaum ist ab dem 1. Oktober 2024 die erste weibliche Präsidentin Mexikos in der Geschichte.
Claudia Scheinbaum ist ab dem 1. Oktober 2024 die erste weibliche Präsidentin Mexikos. Copyright 2024 The Associated Press. All Rights Reserved

Die erste Präsident Mexikos erbt von ihrem Vorgänger auch die historische Schuld der geschlechtsspezifischen Gewalt. In Mexiko werden pro Tag 10 Frauen ermordet. Auch in der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau Opfer eines Femizids.

Wird die erste Frau an der Spitze von Mexikos Regierung wirksame Massnahmen gegen die geschlechtsspezifische Gewalt im Land ergreifen? Diese Hoffnung haben in Mexiko viele.

Claudia Sheinbaum hat Anfang Oktober ihr Amt als Präsidentin von Mexiko angetreten. Sheinbaum ist ehemalige Regierungschefin von Mexiko-Stadt, Doktorin der Physik und frühere Studentenaktivistin. Sie soll der seit 2018 regierenden Partei Kontinuität zu verleihen.

Femizid: In Mexiko ein Straftatbestand

Doch Sheinbaum erbt auch eine historische Schuld: die Eindämmung der geschlechtsspezifischen Gewalt.

Jeden Tag werden in Mexiko rund 10 FrauenExterner Link ermordet. Nach offiziellen AngabenExterner Link wurden 2023 in Mexiko 2580 Frauen ermordet und 830 weitere Fälle wurden als Femizide eingestuft. Unter dem Begriff versteht man sämtliche Tötungsdelikte an weiblichen Personen wegen ihres Geschlechts.

Anders als die Schweiz kennt Mexiko den Femizid bereits seit 2012 als eigenen Straftatbestand. Doch dies ändert nichts daran, dass viele Verfahren ohne Urteil enden.

„Was die Femizide und die Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen betrifft, so werden die Zahlen weiterhin verschleiert. Die Behörden sind einfach nicht bereit, Ermittlungen anzustellen“, sagt Karla Micheel Salas, eine auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisierte Anwältin in Mexiko.

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Gewalt gegen Frauen bis hin zum Femizid ist überall auf der Welt traurige Realität. In der Schweiz wird durchschnittlich alle zwei Wochen eine Frau Opfer eines Femizids. 59% aller Tötungsdelikte in der Schweiz waren 2022 im «häuslichen Bereich».

„Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Gewalt seit der Pandemie zugenommen hat und dass der mexikanische Staat nicht in der Lage war, Massnahmen zum Schutz der Frauen zu ergreifen. Dass eines der Phänomene, die sich verschlimmert haben, das Verschwinden von Frauen und Mädchen ist. Und dass es Kriminalisierung und Gewalt gegen Feministinnen und Menschenrechtsverteidigerinnen gegeben hat“, erklärt Micheel Salas.

Viele Femizide wurden unter einer anderen Strafkategorie oder sogar als Unfalltod kategorisiert, um einen Rückgang vorzutäuschen, heisst es in einer Untersuchung des mexikanischen Online-Mediums Animal Político.

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In Mexiko müssen Familien akzeptieren, dass die Polizei die Akte über die Ermordung ihrer Tochter oder Schwester schliesst, ohne dass es einen Schuldigen gibt. Andere entscheiden sich aus Angst vor Repressalien für das Schweigen und nur sehr wenige sehen den Angreifer bestraft.

2023 hat sich SWI swissinfo.ch mit Animal Politico zusammengetan, um in einer Serie von Artikeln die Bestrebungen für eine direkte und inklusive Demokratie in beiden Ländern zu vergleichen.

Im Land gibt es eine Straflosigkeit von 96,3% über alle Delikte hinweg. Bei Femiziden beträgt diese 88,6%, laut dem BerichtExterner Link des Centro de Análisis de Políticas Públicas México Evalúa von 2022.

Gewalt gegen Frauen: «Sehr düstere Realität» in Mexiko

«Die Realität bezüglich Gewalt gegen Frauen, und speziell Femizide in Mexiko ist sehr düster», sagt auch Thomas Nett, ein Schweizer Geschäftsmann in Mexiko.

Nett kam vor 10 Jahren ins Land und erlebt «eine Gleichgültigkeit und sogar Gelassenheit, mit der dieses sehr bedrückende Thema von der breiten Öffentlichkeit behandelt wird“. Nett erwartet von der neuen Präsidentin «keine Wunder».

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Trotzdem hat Nett grosse Erwartungen: «Frau Sheinbaum kann als Frau mit wissenschaftlichem Hintergrund sehr viel bewirken, sofern der politische Wille besteht.“

Justizreform, ohne die Straflosigkeit ins Visier zu nehmen

Kurz vor dem Amtsantritt von Claudia Sheinbaum hat das Parlament mehr als 30 Verfassungsänderungen und eine Justizreform verabschiedet.

Doch «diese Justizreform ändere nichts, daran, dass Täter häufig davonkommen», laut Dalila Sarabia, Journalistin bei Animal Politico.

„Der Zugang zur Justiz ist ein schwelendes Problem in unserem Land und wird durch diese Reform definitiv nicht gelöst“, sagt sie. Diese Reform geht nicht auf die strukturellen Probleme ein, mit denen Frauen beim Zugang zur Justiz konfrontiert sind, einem der grundlegenden Elemente der demokratischen Qualität eines Landes.

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Für Sarabia sollte die Frage der Sicherheit zweifellos eine Priorität für die neue Präsidentin sein. Sie gibt jedoch zu Bedenken, dass über die Pläne von Sheinbaum in diesem Bereich wenig bekannt ist.

Immerhin möchte Sheinbaum das in Mexiko-Stadt geltende Gesetz «El agresor sale de casa» (Der Angreifer verlässt das Haus) fördern. «Damit muss immer der Angreifer die Wohnung verlassen – und nicht die vergewaltigte Frau in ein Frauenhaus», erklärt Sarabia, «Das ist eine innovative Massnahme im Vergleich zu dem, was man bisher auf internationaler Ebene gesehen hat.“

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Um die Gewalt im Allgemeinen einzudämmen, «ist bekannt, dass die Präsidentin einen nationalen Dienst einrichten will, damit alle Staatsanwaltschaften miteinander verbunden sind, um die Kriminalität zu bekämpfen.» Weiter habe sie ihre Bereitschaft geäussert, die Gleichstellung der Geschlechter und das Recht auf ein Leben frei von Gewalt in die Verfassung zu verankern.

«Claudia Sheinbaum wird ein zutiefst sexistisches Land regieren. Als erste weibliche Präsidentin, die auch eine Linke ist und sich als Feministin bezeichnet, bin ich zuversichtlich, dass sie das Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen ernsthaft angehen wird. Dies dürfte eines der Themen sein, bei denen sie sich deutlich von der sechsjährigen Amtszeit des vorherigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador unterscheiden wird“, sagt die feministische Anwältin Karla Micheel Salas.

Mehr als 100’000 Menschen sind in Mexiko offiziell als verschwunden anerkannt. Diese Opfer von Gewalt kommen aus allen sozialen Schichten des Landes, wobei das organisierte Verbrechen, aber auch der Staat selbst dafür verantwortlich gemacht werden. Das Desinteresse an ihrer Suche ist so gross, dass die Zivilgesellschaft, vor allem die Frauen, es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihre Angehörigen zu finden. Wird die neue Präsidentin sie unterstützen?

Sarabia sagt, dass das Engagement der Mütter, die in Mexiko nach vermissten Personen suchen, nicht nur von ihrem Vorgänger, sondern «bis jetzt von Sheinbaum selbst» ignoriert wurde. Doch die Hoffnung ist da.

«Ich würde mir wünschen, dass die Agenda der suchenden Mütter – die gehört und sichtbar gemacht werden müssen – wirklich ganz oben auf der Agenda der neuen Präsidentin steht», sagt Ceci Flores, die selbst auf der Suche nach Vermissten in Mexiko ist. Bis jetzt hat sich Flores vom Staat völlig im Stich gelassen gefühlt: «Hoffen wir, dass Claudia Sheinbaum als Frau und Mutter die nötige Sensibilität und das Einfühlungsvermögen für dieses Problem aufbringt, das vom letzten Präsidenten nie angesprochen wurde.»

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