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Der italienische Blogger für direkte Demokratie

Paolo Michelotto ist ein Lautsprecher für die direkte Demokratie in Italien. Auf seinem Blog findet sich eine Art gratis Online-Bibliothek zu diesem Thema. swissinfo.ch

Der 46-jährige Italiener Paolo Michelotto ist ein Fan von direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung. Er publiziert Bücher und Videos, organisiert Workshops und bloggt im Internet. Auch das Schweizer Politiksystem hat ihn animiert, für Veränderungen in Italien zu kämpfen. swissinfo.ch traf Michelotto zum Gespräch.

Obwohl nur 1000 Exemplare gedruckt wurden, haben schon mehrere tausend Italienerinnen und Italiener das Buch gelesen. Der Band «Guida alla democrazia diretta – In Svizzera e oltre frontiera» (Führer zur direkten Demokratie – in der Schweiz und ennet der Grenze) wurde dank der Unterstützung der Staatskanzlei in Bern und von Präsenz Schweiz publiziert.

Diese Verbreitung in Italien verdankt sich weitgehend Paolo Michelotto, der das Buch ins Internet gestellt hat. So konnten alle Interessierten diesen Band kostenlos lesen. Zudem ruft Michelotto Gleichgesinnte dazu auf, das Buch ebenfalls ins Internet zu stellen. Diesem Aufruf sind schon verschiedene italienische Gruppen gefolgt, die sich für «mehr Demokratie» in Italien einsetzen.

Doch was hat Michelotto dazu gebracht, sich für das direktdemokratische System in der Schweiz zu interessieren und dieses bei seinen Landsleuten bekannt zu machen? «Letztlich kam dieses Interesse aus einem Unbehagen an meinem Land, in dem sich die Regierungen von Silvio Berlusconi und Romano Prodi abwechselten», sagt Michelotto, den wir in seinem Wohnort Rovereto nahe von Trient treffen.

Suche nach Alternativen

Bürgerhaushalt

Der Bürgerhaushalt, auch partizipativer Haushalt oder Beteiligungshaushalt genannt, ist eine in den 1980er-Jahren entwickelte, direkte Art von (kommunaler) Bürgerbeteiligung. Die Verwaltung einer Stadt, einer Gemeinde oder einer anderen Verwaltungseinheit bemüht sich dabei um mehr Haushaltstransparenz und lässt die Bürger mindestens über Teile der frei verwendbaren Haushaltsmittel mitbestimmen und entscheiden.

Der erste Bürgerhaushalt wurde 1989 in Porto Alegre (Brasilien) durchgeführt. Inzwischen gibt es in Brasilien fast 200 solcher Kommunen, in ganz Lateinamerika über 1000. Die Transparenz des Gemeindebudgets erweist sich auch als wirksames Mittel gegen Korruption. Die Idee wurde von dort in viele Teile der Welt «exportiert». Auch in Italien hat sich die Idee des Bürgerhaushaltes verbreitet.

«Ich erlebte die politische Situation Ende der 1990er-Jahre als sehr einengend. Daher machte ich mich auf die Suche nach alternativen politischen Modellen. Ich stiess auf den partizipativen Haushalt gemäss dem Modell von Porto Alegre in Brasilien. Das war eine Überraschung. Und ich war damals überzeugt, dass es kein weiter entwickeltes Demokratiemodell auf der Welt gibt.»

Michelotto stürzte sich voll auf das Thema und publizierte 2001 das Buch «Vera democrazia» (Wahre Demokratie). Ein Jahr später beteiligte er sich an der Gründung der Gruppe «Bilancio Partecipativo» (Bürgerhaushalt) in Vicenza, seinem damaligen Wohnort: «Wir waren Bürger ohne parteipolitische Bindung, die sich für die öffentliche Sache engagieren wollten.»

Die Mitglieder dieser Gruppe sprachen mit dem Bürgermeister, mit Gemeinderäten und weiteren institutionellen Repräsentanten, doch die Türen blieben ihnen verschlossen. Es gab kein Entgegenkommen. «So dachten wir, den Spiess umzudrehen und das Prinzip der Bürgerbeteiligung von unten aufzubauen. Es gab zwischen drei und zehn Organisatoren, und manchmal Hunderte von Teilnehmenden an den Gruppen», erinnert sich Michelotto.

Vorbild Eidgenossenschaft

Paolo Michelotto beschäftigte sich weiter mit Modellen direkter Demokratie und «entdeckte» das Schweizer System. Er vertiefte sein Wissen und versuchte dann, gemeinsam mit weiteren Kollegen aus Vicenza, Schweizer Elemente der direkten Demokratie zu «importieren».

Das Projekt kommt damals gut voran. Und 2005 wird zu einem entscheidenden Jahr. Die Gruppe ändert ihren Namen und heisst neu «Più Democrazia» (Mehr Demokratie). Michelotto baut eine Internet-Seite auf. Dann wird für das Instrument einer beratenden (aber nicht bindenden) Volksabstimmung geworben, um in Vicenza Volksinitiativen und Referenden mit einem niedrigen Quorum einzuführen. Die gesamten Aktivitäten werden ins Internet gestellt, was die öffentliche Wahrnehmung deutlich erhöht.

Im Jahr 2007 zieht Michelotto nach Rovereto um. An seinem Projekt von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie arbeitet er weiter. Er gründet die Gruppe «PartecipAzione Cittadini Rovereto» (Bürgerbeteiligung Rovereto) und kümmert sich um deren Webseite. Im Jahr darauf steht er an vorderster Front bei der Lancierung von vier kommunalen Referenden; er publiziert das Buch «Democrazia dei Cittadini» und startet mit einem persönlichen Blog.

Ein Quantensprung bei der Schaffung von Bewusstsein um direkte Demokratie gelingt ihm, sobald er Bücher online zugänglich macht. «In Italien wird häufig ohne Sachkenntnis daher geredet. Man spricht von Utopien, ohne zu wissen, dass in einem benachbarten Land wie der Schweiz die direkte Demokratie schon lang gelebt wird und gut funktioniert. Jetzt hat das Bewusstsein zugenommen», hält er fest.

Das Wort den Bürgern

Paolo Michelotto unterstreicht, dass die neuen Medien eine entscheidende Rolle spielten, um das Thema der direkten Demokratie bekannt zu machen. Besonders, weil die traditionellen Medien dieses Thema nicht behandeln. Michelotto konnte sich dank seines Engagements und des Mediums Internet einen Namen machen. Inzwischen erhält er aus ganz Italien Anfragen, um über Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie zu sprechen.

Er referiert zudem über die Methode «Den Bürgern das Wort geben», die 2003 in Vicenza entwickelt wurde. Es geht darum, wie Themen auf öffentlichen Bürgerversammlungen diskutiert und in ordentliche parlamentarische Vorstösse umgewandelt werden, die in den Gemeinderat eingebracht werden.

«Seither wurde diese Methode an vielen Orten in ganz Italien angewandt, sogar in einem Gymnasium von Trient. Generell sind Initiativen zur direkten Demokratie wie Pilze aus dem Boden geschossen. In vielen Gemeinden gibt es heute entsprechende Instrumente. Auch die Quoren (prozentuale Mindestbeteiligung an Stimmenden für die Gültigkeitserklärung einer Initiative) wurden gesenkt oder ganz aufgehoben.»

Neue Hoffnung

Mittlerweile ist Michelotto ein wenig kürzer getreten. Er widmet sich in seiner Freizeit nicht mehr ausschliesslich der Sache der direkten Demokratie, sondern auch seiner eigenen Familie.

In Bezug auf die Entwicklungen bei der direkten Bürgerbeteiligung ist er zuversichtlicher als auch schon. «Initiativen für mehr direkte Demokratie findet man heute nicht nur in Südtirol. Auch im Trentino agiert eine Gruppe mit viel Energie und Enthusiasmus, ebenso in Friaul-Julisch Venetien. Es gibt Gemeinderäte, die mich kontaktiert haben, als sie für politische Ämter kandidiert haben. Inzwischen sind viele gewählt und können einiges bewegen und so die schrittweise Einführung der direkten Demokratie beflügeln», betont der Blogger.

Auf Ebene von Provinzen und Gemeinden wurden viele Fortschritte erreicht. Weniger optimistisch ist Michelotto in Bezug auf die Entwicklungen auf nationaler Ebene. «Die einzige Partei, die sich für die Einführung der Volksinitiative einsetzen könnte, wäre die «5-Sterne-Bewegung». Diese Bewegung hat viele Vertreter in Provinzen und Gemeinden, die sich für diese Themen interessieren. Doch auf nationaler Ebene bleibt die direkte Demokratie ein Fremdwort. Aber irgendwann wird sich auch die Parteileitung dieser Bewegung dem Willen der Wähler beugen müssen, wenn diese die direkte Demokratie wollen», bilanziert Michelotto mit gewisser Zuversicht.

Tag der Demokratie

Paolo Michelotto war Promotor verschiedenster Initiativen, darunter der «Woche für direkte Demokratie», die 2011 in zwei Dutzend Gemeinden Italiens stattfanden, sowie den Tagen der Demokratie (gelegentlich Democracy Day genannt). Die wichtigsten wurden in Parma (2013) sowie Vignola (2015) durchgeführt.

In Parma wurden die anlässlich des Tags der Demokratie gemachten Versprechungen von der Stadt eingehalten. Laut Michelotto führte die Stadtverwaltung 2014 tatsächlich das Mittel der Volksinitiative sowie des Referendums ohne Quorum ein. Zudem wurden spezielle Gemeinderäte für die ausländischen Mitbürger gewählt. Dies war anlässlich des Tags der Demokratie gefordert worden.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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