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Die Armut in der Schweiz wächst

Eine junge Frau lässt sich beim Regionalen Arbeits-Vermittlungs-Zentrum Nidwalden registrieren. Keystone

In der Schweiz sind laut Caritas eine Million Menschen – ein Siebtel der Bevölkerung - von Armut betroffen, mehr als bei der letzten Schätzung vor zwei Jahren.

Das Hilfswerk fordert, dass die Existenzsicherung zur nationalen Aufgabe erklärt wird.

Ende 2003 schätzte Caritas die Zahl der Armen noch auf 850’000. Die Situation habe sich seither verschärft, schreibt das Hilfswerk am Mittwoch. Der Arbeitsmarkt erfülle seine Funktion als primäre Quelle der Existenzsicherung nicht mehr.

Die Schätzung, dass in der Schweiz eine Million Arme leben, stützt sich auf drei Studien, die sich mit der Armut bei Jugendlichen, Erwachsenen und Rentnern befassen. Zu Grunde liegt den Zahlen die Armutsgrenze, die anhand der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) definiert wird.

Arme Rentner

Am verbreitetsten ist Armut demnach bei der Altergruppe der Rentnerinnen und Rentner. Aufgrund von Daten der Schweizer Arbeitskräfte-Erhebung (SAKE) schätzt Caritas, dass im Jahr 2003 17% der über 64-Jährigen ein Renteneinkommen erzielten, das unter der Armutsgrenze liegt. Das sind insgesamt rund 196’600 alte Menschen.

Bei den 19- bis 64-Jährigen liegt die Armutsquote laut Caritas bei rund 13%. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen, nämlich 7,4%, gehören zu den so genannten «Working Poor». 604’400 Personen im erwerbsfähigen Alter sind demnach von Armut betroffen.

Beunruhigend hoch sind laut Caritas auch die Armutszahlen bei Jugendlichen: Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) schätze nämlich, dass 12 bis 15% der Kinder bis 18 Jahren in Armut lebten. Dies entspricht einer Zahl von 200’000 bis 250’000 armen Kindern.

Ungenügender Sozialstaat

Zusammengezählt übersteige die Zahl der armen Menschen in der Schweiz also zum ersten Mal die psychologisch wichtige Grenze von einer Million, schreibt Caritas im «Sozialalmanach 2006». Eigentlich, so das Hilfswerk, sollte der Sozialstaat deren Existenz sichern.

Hier hapere es aber: Laut Schätzungen beziehe nämlich jeder zweite arme Mensch keine Sozialhilfe, obwohl er dazu berechtigt wäre. Demnach lebten selbst mit der Unterstützung durch den «Sozialstaat» noch rund 400’000 Menschen unter 65 Jahren mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze.

Bei den Ergänzungsleistungen für armutsbetroffene alte Menschen liege die Nichtbezugsquote deutlich tiefer. Aber immerhin seien über 40’000 Rentner trotz Ergänzungsleistungen noch von Armut betroffen. Über alle Altersklassen kommen 6% trotz Bezugs von Bedarfsleistungen nicht über die Armutsgrenze hinaus.

Immer längere Bezugsdauer

Laut Caritas sind zudem die Aussichten von Sozialhilfebezügern gering, wieder eine Arbeit zu finden. Menschen fielen heute wegen Verschärfungen bei der Arbeitslosenversicherung nicht nur schneller in die Sozialhilfe, sondern sie blieben dort auch länger.

Im Durchschnitt erhielten inzwischen 61% aller Bezüger länger als ein Jahr Sozialhilfe. Gut ein Viertel werde sogar schon länger als drei Jahre unterstützt. So verwundere es nicht, dass in den meisten Städten die Zahl der Sozialhilfebezüger auch 2004 angestiegen sei.

Um die Situation zu entschärfen, müsse die Existenzsicherung zur nationalen Aufgabe gemacht werden, fordert Caritas. Das Hilfswerk schlägt eine Grundsicherung auf nationaler Ebene vor. Darauf aufbauend sei eine allgemeine Sozialversicherung einzuführen, die Notlagen von der Arbeitslosigkeit bis zur Invalidität abdecke.

Alarmierte Parteien

Die Parteien zeigen sich angesichts der neusten Schätzungen zur Armut in der Schweiz alarmiert.

Es sei bekannt, dass die Zahl der Armen ansteige, sagte der Präsident der Sozialdemokratischen Partei (SP), Hans-Jürg Fehr. Die neusten Schätzungen schockierten ihn dennoch. Es sei dies das Resultat der Politik der letzten zehn Jahre. Diese müsse bekämpft werden.

Auch die Grünen machen die neoliberale Politik für die Entwicklung verantwortlich. Die Angriffe auf die Sozialversicherungen hätten dazu beigetragen, dass eines der reichsten Länder der Welt von Armut betroffen sei, sagte Generalsekretär Hubert Zurkinden.

Das Rezept der Schweizerischen Volkspartei (SVP) heisst Steuererleichterungen für Unternehmen. Nur mit besseren Rahmenbedingungen für die Wirtschaft könne die Armut bekämpft werden, sagte SVP-Sprecher Simon Glauser. Zudem müssten die Sozialversicherungen saniert werden.

Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) setzt auf Wirtschaftswachstum. Es müssten Arbeitsplätze geschaffen werden, so der Waadtländer FDP-Nationalrat Charles Favres. Nur so könne verhindert werden, dass die Schwächsten untergingen.

Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) will die Wirtschaft zu Innovationen ermutigen. Als weitere Stichworte nennt sie Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und Weiterbildung. Zudem müsse die berufliche Situation der Jungen verbessert werden, betonte CVP-Generalsekretär Reto Nause.

swissinfo und Agenturen

Gemäss Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) liegt in der Schweiz die offizielle Armutsgrenze bei 2480 Franken Monatseinkommen für einen Einpersonen-Haushalt. Für ein Ehepaar mit zwei Kindern liegt sie bei 4600 Franken. Diese Zahlen betreffen das Netto-Einkommen nach Sozialabzügen und Steuern.

Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) betrug die Armutsquote 2004 12,5%, ca. eine auf acht Personen.

2004 gab es 211’000 «Working Poor», 6,7% der erwerbstätigen Bevölkerung zwischen 20 und 59 Jahren.

Als «Working Poor» gelten erwerbstätige Personen, die mindestens eine Stunde pro Woche gegen Bezahlung arbeiten oder in einem Haushalt leben, dessen Mitglieder zusammen mindestens 36 Stunden pro Woche arbeiten.

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