Die beunruhigende Neuerfindung der Autokratie
Die neue Generation undemokratischer Machthaber fürchtet weder Wahlen noch die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am öffentlichen Leben. Aber sie vergessen den Wunsch der Menschen nach Freiheit, heisst es im neuen Bericht "Global State of Democracy".
Shanghai war in den vergangenen Tagen Schauplatz von Protesten, bei denen das Ende der weltweit strengsten Covid-19-Beschränkungen und mehr Freiheit gefordert wurde. Die Demonstrationen breiteten sich rasch auf die wichtigsten Städte Chinas aus – Peking, Wuhan – sowie auf über 50 Universitätsgelände. Sie dauern noch an.
In Iran erschüttert seit mehr als zwei Monaten ein Volksaufstand den Islamischen Staat, ausgelöst durch die Tötung einer jungen Frau durch Sicherheitskräfte.
Und in Budapest riefen Lehrpersonen, Schülerschaft und Eltern kürzlich zu zivilem Ungehorsam gegen die nationalistische Regierung von Victor Orban auf, indem sie eine zehn Kilometer lange Menschenkette bildeten.
Autokraten auf dem Vormarsch
«Das sind bemerkenswerte Reaktionen, die zu positiven Entwicklungen beitragen können», sagt Alexander Hudson von «International IDEA» und Mitautor eines neuen Berichts mit dem Titel «Global State of Democracy» (GsoD22).
Diese jüngsten Proteste gegen autoritäre Herrschaft können jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Autokraten ihre globale Reichweite massiv erhöht haben, so die Ergebnisse des Berichts.
«International IDEA» ist eine globale zwischenstaatliche Agentur zur Unterstützung der Demokratie mit Sitz in Stockholm (Schweden). Sie veröffentlicht seit 2017 den Bericht «Global State of Democracy».
Dieser analysiert, wie es um die Einhaltung demokratischer Grundsätze in den Ländern bestellt ist. Dazu gehören Faktoren wie Grundversorgung, Abwesenheit von Korruption und soziale Gleichheit.
Dem Bericht zufolge gibt es im Jahr 2021 doppelt so viele Länder, die autoritärer wurden als solche, die demokratischer wurden. Ausserdem, so Hudson, «haben autoritäre Regime ihre Unterdrückung verschärft, wobei 2021 das schlimmste Jahr in der Geschichte ist».
Zurück ins Jahr 1990 gefallen
Die Zahlen zeigen, dass die Welt wieder dort ist, wo sie am Ende des Kalten Kriegs stand. Mit mehr oder weniger der gleichen Anzahl von Demokratien und autoritären Regimes wie 1990.
Von den insgesamt 173 Ländern, die in dem Bericht bewertet wurden, können heute 104 als Demokratien bezeichnet werden. 14 dieser Länder sind 2021 demokratischer als im Vorjahr, während 48 weniger demokratisch wurden. Von den 69 untersuchten Autokratien ist mehr als die Hälfte im Jahr 2021 repressiver geworden.
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Das harte Rennen um das beste Demokratie-Ranking
Doch während die Zahl der demokratischen gegenüber den autokratischen Ländern etwa gleich hoch ist wie 1990, konnten sich die autokratischen Führer an eine stärker vernetzte und digitalisierte Welt anpassen.
Bevor er offen in den Krieg gegen sein Nachbarland Ukraine zog und die letzten Reste von Freiheit in Russland abschaffte, entwickelte der russische Präsident Wladimir Putin seine eigene Art von «Wahlautokratie», ein System mit regelmässigen, aber unfreien und unfairen Wahlen.
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Derweil kündigte Ungarns Ministerpräsident Orban 2014 die Schaffung einer «illiberalen Demokratie» an. Als Beispiele erwähnte er die Türkei und Russland.
«Die Mittel der Unterdrückung sind sicherlich kreativer geworden», sagt Hudson. «Aber gleichzeitig sind Autokratien auch anfälliger für Fehler. Ihre Fehler, wie wir derzeit am Beispiel von Putins Krieg sehen können, brauchen sehr lange, um behoben zu werden.»
116 Nuancen der Demokratie
Der Bericht bietet auch einen kleinen Hoffnungsschimmer für die Demokratie. Während in autokratischen Staaten Proteste ausbrechen, haben mehrere Länder auf der ganzen Welt ihren demokratischen Koeffizienten erhöht; dazu gehören Gambia, Sri Lanka, Chile und Moldawien.
Andere, wie die Schweiz und die skandinavischen Länder, sind in allen 116 im Bericht analysierten Variablen stabil. Das hat zur Folge, dass diese Länder langfristige Auswirkungen auf den Frieden, den Aufbau von Wohlstand und die Steigerung der Zufriedenheit verzeichnen.
«Der Schweizer Demokratie geht es gut», sagt Giada Gianola, Dozentin für Politikwissenschaft an der Universität Bern. «Wir haben in den letzten zehn Jahren Verbesserungen in verschiedenen Bereichen [der Demokratie] beobachtet. Darunter sind etwa die Einführung neuer Transparenzregeln für politische Parteien oder eine gleichberechtigtere Vertretung von Frauen und Männern im Parlament zu nennen.»
Gianola verweist auch auf das DemokratiebarometerExterner Link, ein schweizerisch-deutsches Projekt zur Messung der Demokratie, das kleine Veränderungen in der Demokratisierung eines Landes beobachtet. Trotz positiver Schritte verzeichnet das Barometer auch negative Entwicklungen, wie etwa eine stärkere Polarisierung zwischen den politischen Parteien und zwischen den Wähler:innen, stellte sie fest.
Wie geht es weiter?
Der neue Bericht «Global State of Democracy» beschreibt den derzeitigen Zustand der Demokratie an einem historischen Scheideweg: «Angesichts der aktuellen Trends stehen die Demokratien unter dringendem Leistungsdruck. Glücklicherweise sind bereits Bemühungen im Gang, die demokratischen Strukturen zu stärken», heisst es.
Diese Bemühungen reichen laut Hudson von der Zulassung von Protesten bis hin zu robusten Wahlinstitutionen, wie kürzlich in Ländern wie Kenia und Brasilien gezeigt wurde. Beide führten 2022 überwiegend friedliche Wahlen durch.
Und während Autokraten sich neu erfinden, müssten Demokratien ebenfalls kreativ sein, argumentiert Hudson. Sowohl durch die Stärkung und den Schutz bestehender Institutionen als auch «durch die Demokratisierung der Demokratie selbst» auf allen politischen Ebenen.
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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