Die direkte Demokratie fliegt in jedem Schweizer Kampfjet mit
Will die Armee neue Kampfjets, redet das Volk mit. Dass es überhaupt über Rüstungsvorlagen entscheidet, ist ein Schweizer Unikum. Überraschender Befund dabei: Dass die Armee der Demokratie ausgesetzt war – allein seit 1977 gab es 24 Abstimmungen über die Landesverteidigung – hat sie in der Summe gestärkt.
Am 27. September stimmt die Schweiz über einen Sechs-Milliarden-Franken-Kredit zum Kauf neuer Kampfjets ab.
Gleich, welcher Typ schliesslich den Himmel über den Schweizer Alpen sichert: Die Flieger stehen wie kaum ein anderes Objekt für die Demokratisierung der schweizerischen Sicherheitspolitik in den letzten Jahrzehnten.
Seit 1977 hat das Schweizer Volk nicht weniger als 24 Mal über eine Armeevorlage abgestimmt. Die meisten Urnengänge wurden entlang des klassischen Links-Rechts-Grabens entschieden: Die Anhänger der Mitte/Rechtsparteien stimmten pro Armee, die Gefolgschaft von Links-Grün kontra. Es ist kaum mehr denkbar, dass die Schweiz zu neuen Kampfflugzeugen kommt, ohne das Volk zu fragen.
Direkte Demokratie fliegt so gesehen in jedem Schweizer Kampfjet mit.
Grosses öffentliches Interesse
Die Weichen dazu wurden 1993 und 2014 gestellt: An den Abstimmungen über die «Initiative gegen neue Kampfflugzeuge» und über die Anschaffung des «Gripen»-Kampfflugzeugs beteiligten sich jeweils über 55 Prozent aller Stimmberechtigten. Solche Werte zählen zu den höchsten der letzten 50 Jahre, sagt Diane Porcellana, Verantwortliche für den Bereich Sicherheitspolitik bei Année Politique Suisse, dem Forschungsschwerpunkt über die Entwicklung der Demokratie in der Schweiz an der Universität Bern.
«Es wäre heikel, das Volk bei der jetzigen Beschaffung nicht entscheiden zu lassen.»
Diane Porcellana, Année Politique Suisse
«Diese beiden Mobilisierungen spiegeln ein starkes öffentliches Interesse, sich zum Kauf neuer Kampfflugzeuge zu äussern. Es wäre deshalb heikel, das Volk bei der jetzigen Beschaffung nicht entscheiden zu lassen», sagt die Politologin.
Seit 1848 hat haben die Schweizer Männer – ab 1971 auch die Frauen – rund 45 Mal über Armeevorlagen abgestimmt. Das sind gut sieben Prozent aller 630 Vorlagen, die bisher an die Urne kamen.
«Bis zu den Abstimmungen über Schweizer Atomwaffen anfangs der 1960er-Jahre waren es grundlegende Verfassungs- und Gesetzesreferendums-Abstimmungen, die meist im Sinne der Armeeführung ausgingen», sagt der Militärhistoriker Rudolf Jaun.
Ab den späten 1970er-Jahren begann eine Zunahme der Armeevorlagen.
In den 1980er-Jahren initiierten armeekritische Gruppen aus dem linken und pazifistischen Spektrum mehrere Volksabstimmungen.
Die Rothenthurm-Initiative 1987 und die Armeeabschaffungs-Initiative 1989 legten den Grundstein für die Demokratisierung der Schweizer Sicherheitspolitik.
«Die Demokratisierung der Sicherheitspolitik – wie auch jene der Aussenpolitik – war überhaupt nicht das Ziel der Behörden.»
Marc Bühlmann, Leiter Année Politique Suisse
Diese Abstimmungen über Kampfjets sind Teil des erwähnten «Pakets» von 24 Abstimmungen über Armeevorlagen in den letzten gut 40 Jahren. «Dabei war die Demokratisierung der Sicherheitspolitik – wie auch jene der Aussenpolitik – überhaupt nicht das Ziel der Behörden», sagt Marc Bühlmann, Leiter von Année Politique Suisse. Im Gegenteil könne es heikel sein, wenn sich das Volk zu stark in diese Kernkompetenzen des Bundes einmische.
Militärhistoriker Rudolf Jaun sieht das anders. «Die schweizerische Demokratie schliesst kein Politikfeld aus, insofern ist die Teilhabe gewollt», sagt der ehemalige Professor für Geschichte an der Universität Zürich. Er ist auch Autor des Buches «Geschichte der Schweizer Armee»Externer Link, in dem er die Sicherheitspolitik vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart ausleuchtet.
Armeefreundliche Entscheide an der Urne
Der Blick auf den Resultat-Spiegel zeigt, dass trotz gestiegener Mitsprache für Militärkreise kein Anlass zur Sorge besteht: «Nur vier Entscheide fielen gegen Regierung und Parlament aus», sagt Bühlmann. Es waren dies
- die erwähnte «Gripen»-Abstimmung (2014),
- das Ja zur Rothenthurm-Initiative, mit der ein Waffenplatz in einer geschützten Moorlandschaft verhindert wurde (1987),
- das Nein zu Schweizer UNO-Blauhelmen (1994) sowie
- das – föderalistisch motivierte – Nein zur Zentralisierung der Herstellung der persönlichen Armeeausrüstung (1996).
Geschichtsträchtige GSoA-Abstimmung
Eine Sonderrolle in dieser Demokratisierung spielt für Politikforscher Bühlmann die Initiative für «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik» von 1989, die so genannte GSoA-Initiative. Sie ist nach der Urheberin benannt, der Gruppe Schweiz ohne Armee.
«Zwar hatten damals ’nur› 35,6% Ja gestimmt. Aber die GSoA-Initiative hat viele Reformen ausgelöst und so sehr viel bewegt», sagt der Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bern. Sie zeige exemplarisch, dass eine Volksinitiative auch ohne Sieg an der Urne erfolgreich sein könne.
«Die teils karnevalistische Art und Weise der Abstimmungskampagne der GSoA stellte einen Tabubruch dar. Die Armee wurde endgültig zum Abbruchobjekt.»
Rudolf Jaun, Militärhistoriker
Auch Militärhistoriker Rudolf Jaun hebt diese Abstimmung hervor. «Zwar wurde die Abschaffung klar abgelehnt. Aber die teils karnevalistische Art und Weise der Abstimmungskampagne der GSoA stellte einen Tabubruch dar. Die Armee wurde endgültig zum Abbruchobjekt.» Jaun verweist auch auf den Charakter der Initiative: eine Friedens-Utopie am Ende des Kalten Krieges.
«Turnaround» in der Schweizer Sicherheitspolitik
Rudolf Jaun setzt den demokratischen «Turnaround» bei der Sicherheitspolitik schon zwei Jahre früher an. Nämlich 1987 – mit dem überraschenden Ja des Schweizer Volks zur Rothenthurm-Initiative und dem Nein zum Rüstungsreferendum.
Sie markierten den Beginn eines grundsätzlichen Kampfes um die Schweizer Armee, so Jaun. «Damals setzte eine linkspopulistische Kampagne gegen die Armee ein: Sie sollte entweder abgeschafft oder langsam ausgehungert werden. Dies kann als ‹gefährlich› interpretiert werden, weil versucht wurde, Regierungsvorlagen und parlamentarische Entschlüsse populistisch auszuhebeln.»
Die GSoA blieb auch mit weiteren Forderungen erfolglos: 1993 scheiterte sie mit der Volksinitiative zur Verhinderung der F/A-18-Kampfjets ebenso klar wie 2001 mit ihrer zweiten Armeeabschaffungs-Initiative. «Danach verlegten sich die GSoA und die Linke auf den Entzug der Ressourcen für die Armee mittels demokratischer Mittel und medialer Skandalisierung», sagt Rudolf Jaun. 2013 schliesslich erlitt auch die Initiative für die Abschaffung der Wehrpflicht eine deutliche Abfuhr. Die Urheberschaft lag bei der Zeitschrift «annabelle», aber die GSoA unterstützte das Begehren.
Wesenskern der Demokratie freigelegt
Trotz negativer Bilanz an der Urne: Die GSoA hat grossen Anteil an der Einzigartigkeit der Schweiz in Sachen Volksentscheide zur Sicherheitspolitik. Die «heilige Kuh» Armee wurde 1989 zwar nicht geschlachtet, aber entmystifiziert.
Gleichzeitig ist laut Marc Bühlmann der Rückhalt der Armee in der Bevölkerung gestiegen. Diese Tendenz würden die jährlichen Sicherheitsstudien der ETH Zürich bestätigen.
Damit legen die Armeevorlagen einen Wesenskern der direkten Demokratie frei: Mit seinen Entscheiden ist das Volk für Regierung, Parlament und Behörden bisweilen eine Nervensäge. Auf längere Sicht aber tragen auch die «nervenden» Volksentscheide zu mehr Vertrauen, Zufriedenheit, Sicherheit und Stabilität im Land bei.
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