Die EU versteht die Schweiz nicht
Die Beziehungen der Schweiz zur EU-Kommission sind schwierig. Könnten die einzelnen EU-Mitgliedstaaten daran etwas verbessern?
Bundesrat Ignazio Cassis reist am 15. November nach Brüssel. Er trifft dort den neuen EU-Ansprechpartner der Schweiz, Maros Sefcovic, den Vize-Präsident der EU-Kommission. Ziel ist eine Standortbestimmung.
Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens befinden sich die Beziehungen Schweiz – EU auf einem Tiefpunkt. Die EU sieht die Schweiz als Rosinenpickerin. Die Schweiz wirft der EU eine Taktik der Nadelstiche vor.
Vor allem mit der EU-Kommission ist Geschirr zerschlagen. Diese hat im Auftrag der Mitgliedländer die Verhandlungen mit der Schweiz geführt. Sie erwies sich als starr, auch wenn einzelne Länder sich durchaus freundlich gaben.
Gibt es also auch Kritik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten an der Politik und am Vorgehen der EU-Kommission gegenüber der Schweiz? «Ich hätte die so nicht wahrgenommen», sagt Fabio Wasserfallen, Professor für Europäische Politik an der Universität Bern. Es habe die eine oder andere Äusserung gegeben, dass die EU-Kommission hätte flexibler sein können, aber nur als Nachsatz dazu, dass die Schweiz sich zu wenig bewegte.
Verhältnis zu Frankreich ist abgekühlt
Die Mitgliedstaaten der EU stehen unterschiedlich zur Schweiz. Die Grenzregionen sind stärker auf gute Beziehungen zur Schweiz angewiesen. Während Deutschland und Österreich sich öffentlich für die Schweiz einsetzen, tritt Frankreich auffallend rigide auf.
«Die Beziehungen zwischen Bern und Berlin sind historisch enger als zwischen Bern und Paris», erklärt der Historiker Bastien Nançoz, der ein Buch über die Freundschaft des früheren französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zur Schweiz geschrieben hat. Nur zu Zeiten Mitterrands hätten die französisch-schweizerischen Beziehungen eine Intensität erreicht, die den privilegierten Beziehungen zwischen Bern und Berlin ähnelten oder sie gar konkurrierten.
Dieses «goldene Zeitalter der französisch-schweizerischen Beziehungen» ist längst zu Ende. «Sie haben ihren Glanz verloren», so Nançoz. Von einer Verschlechterung in jüngster Zeit will er zwar nicht sprechen, doch: «Zweifellos hat die Beerdigung des institutionellen Rahmenabkommens durch den Bundesrat im Mai 2021 in Frankreich Unverständnis und Enttäuschung ausgelöst.» Diese Entwicklung habe die Schweiz auf die Liste der «Drittländer» verwiesen, zu denen Paris zwar gute Beziehungen pflege, aber an denen es wenig Interesse habe.
Eine weitere Erklärung für Frankreichs Zurückhaltung gegenüber der Schweiz hat Wasserfallen: «Frankreich ist zentralistisch und nimmt eine gesamtfranzösische Perspektive ein.» Deutschland funktioniere föderalistischer. «Baden-Württemberg [das sich als Vermittler zwischen der Schweiz und der EU sieht, A.d.R.] kann sich innerhalb Deutschlands besser artikulieren als eine französische Grenzregion in Paris.»
Dazu kommt: Die Schweiz hat Frankreich bei diversen Beschaffungsentscheiden übergangen. «Frankreich hat eine etatistische Sicht: Es spielt eine Rolle, ob die Schweiz sich für oder gegen französische Kampfflugzeuge entscheidet», so Wasserfallen.
Geteilte Vision einer EU als Staatenbund
Noch ambivalenter gestaltet sich das Verhältnis der Schweiz zu Osteuropa. Diese Länder gelten nicht gerade als der Schweiz besonders gewogen.
Wenn man aber genauer hinschaut, zeigt sich, dass zumindest Polen und Ungarn der Schweiz in der Mentalität ähnlich sind: Hüben wie drüben pocht man auf Souveränität und lehnt einen generellen Vorrang von EU-Recht und europäischen Urteilen ab.
Von rechts werden diese Gemeinsamkeiten geradezu zelebriert, beispielsweise mit der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Ungarn. Die Schweiz könne sich von der Haltung Ungarns inspirieren lassen, sagte der Gründer, SVP-Nationalrat Andreas Glarner, gegenüber der Aargauer ZeitungExterner Link und sprach vom «Widerstand gegen die Entmachtung der Nationalstaaten». Aber auch von links werden Kollisionen provoziert: Aktuell bekämpfen linke Parteien eine stärkere Finanzierung des europäischen Grenzschutzes und riskieren damit einen Ausschluss der Schweiz aus dem Schengen-Dublin-Abkommen.
Auf Anfrage von SWI swissinfo.ch gibt sich die ungarische Regierung gegenüber der Schweiz sehr aufgeschlossen und schreibt unter anderem: «Both countries share the vision of a strong Europe based on strong, sovereign nation states. Although we regret Switzerland’s choice, nevertheless, Hungary fully respects the decision of the Swiss side.» («Beide Länder teilen die Vision eines starken Europas, das auf starken, souveränen Nationalstaaten beruht. Obwohl wir den Entscheid der Schweiz bedauern, respektiert ihn Ungarn voll und ganz.») Ungarn kann sich also mit dem Schweizer Wunsch nach Souveränität bestens identifizieren.
Für die neuen EU-Mitgliedländer ist laut Wasserfallen allerdings schwer verständlich, warum sie die EU-Gesetzgebung vollständig übernehmen mussten, während die Schweiz mit den bilateralen Verträgen ein Sonder-Modell erhalten hat. «Sie wollen nicht, dass die Schweiz mehr bekommt als sie bekommen haben. Diesbezüglich gibt es wenig Verständnis», so Wasserfallen.
Mit Kohäsionsmilliarde Image aufpolieren
Mit ihren Projekten im Rahmen der ersten Kohäsionsmilliarde – dem Beitrag der Schweiz an die zehn neuen Staaten der EU – konnte die Schweiz ihr Image in Osteuropa aufpolieren. Im Jahr 2012 sagte Georg Dobrovolny, damaliger Geschäftsleiter und Vorstandsdelegierter des Forums Ost-West, gegenüber swissinfo.ch: Die Schweiz habe sich die schwierigsten Regionen in Osteuropa ausgesucht und sei mit einem sehr beachtlichen Beitrag engagiert. «Die Schweiz hat in diesen Ländern wohl nach wie vor das bessere Image als Brüssel», so Dobrovolny.
Auch an der zweiten Kohäsionsmilliarde haben die osteuropäischen Staaten ein grosses Interesse. Die EU will sogar regelmässige Zahlungen der Schweiz in einem Memorandum of Understanding verankern. «Die Kohäsionszahlungen verbessern die Haltung der osteuropäischen Staaten gegenüber der Schweiz nicht automatisch», bilanziert Wasserfallen. Es besteht im Gegenteil eine gewisse Anspruchshaltung – ähnlich wie bei Geldern der EU.
EU-Mitgliedländer verstehen die Schweiz nicht
Fest steht: Die EU-Mitgliedländer können nur dann helfen, die verfahrene Situation zwischen der EU und der Schweiz aufzulösen, wenn sie die Schweiz und ihre Positionen verstehen. Diesbezüglich sehen aber sowohl Wasserfallen als auch Nançoz eher schwarz.
«Die Schweizer Perspektiven sind in Brüssel unbekannt», sagt Wasserfallen. «Die EU hat nicht präsent, welche Auswirkungen die hohen Lohnunterscheide in den Schweizer Grenzregionen haben.» Das Thema hätte man seiner Meinung nach kreativer angehen können.
Eine weitere Quelle des Nichtverstehens sieht Wasserfallen darin, dass die meisten EU-Mitgliedländer Exekutiv-lastigere Systeme hätten. «Sie verstehen deshalb nicht, dass die Schweizer Regierung das Rahmenabkommen beerdigen musste, weil sie sah, dass sie es innenpolitisch niemals durchbringen würde. Die Schweiz muss auch die Hürde der Volksabstimmung nehmen – in der EU ist das die Ausnahme.»
Laut Nançoz wird der «kleine Nachbar» Schweiz von Paris wenig verstanden. «Die rotierende Präsidentschaft im Bundesrat, das föderalistische System, die Mehrsprachigkeit sind unter anderem schweizerische Eigenheiten, die dem stark zentralisierten französischen politischen System fremd sind.» Einzig François Mitterrand habe versucht zu verstehen, wie die Schweiz funktioniere.
Das Nein zum EWR sei für den Schweiz-Freund Mitterrand ein echter Schock gewesen. «Der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen lässt diese unglückliche Episode von 1992 wieder aufleben.»
Für die EU-Mitgliedländer ist die Schweiz also eine Black Box – man weiss nie, was sie will und was sie will, das überrascht. Die Schweiz sollte nicht darauf zählen, dass die EU-Mitgliedländer bei der Lösung der Blockade eine grosse Hilfe sind.
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