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Die Memoiren der Schlangenfängerin

Keystone

Die Erinnerungen von Carla Del Ponte über ihre Jahre als Chefanklägerin am UNO-Kriegsverbrecher-Tribunal sind nun auch auf Deutsch erschienen. Die mutige Schweizer Juristin beschreibt vor allem die politischen Hürden bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern.

Als das Buch «Im Namen der Anklage» im April 2008 im Original in italienischer Sprache erschien, konzentrierte sich die Diskussion schnell auf einen Abschnitt um einen mutmasslichen, von Kosovo-Albanern ausgeführten Organhandel.

Del Ponte berichtet über Informationen, wonach mit dem Wissen der kosovo-albanischen Befreiungsarmee (UCK) in den Sommermonaten 1999 rund 300 serbische Gefangene in Albanien umgebracht und deren Organe auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden.

Beweise für diese Praxis gab es nicht. Die Menschenrechtskommission des Europarats unter Leitung des Schweizer Abgeordneten Dick Marty hat inzwischen den Auftrag erhalten, einen Rapport zu diesen ungeheuerlichen Anschuldigungen auszuarbeiten, die in Serbien und Albanien für Unruhe sorgen. In diesem Herbst soll der Bericht laut Marty vorliegen.

Jagd auf Kriegsverbrecher

Der Wirbel um die Organgeschichte sowie der Entscheid des Eidgenössischen Aussendepartements, der mittlerweile zur schweizerischen Botschafterin in Argentinien ernannten Carla Del Ponte eine Präsentation ihres Buches zu verbieten, verstellten den Blick auf den Gesamtinhalt ihrer Memoiren.

Denn bei der Lektüre des jetzt auch auf Deutsch erschienen Buches wird deutlich, dass die Organgeschichte nur ein kleines Detail ist – wenige Seiten in einem über 500 Seiten starken Kompendium.

Zur Hauptsache schildert die ehemalige Chefanklägerin nämlich ihre Schwierigkeiten, die Verhaftung und Auslieferung mutmasslicher Kriegsverbrecher aus Serbien, Kroatien oder dem Kosovo nach Den Haag zu erwirken.

Allen voran der bis heute flüchtige Ratko Mladic, der ehemalige Kommandeur der bosnisch-serbischen Armee, der in Zusammenhang mit dem Massaker von Srebrenica angeklagt ist, und Radovan Karadzic, der erst im Juli 2008 – sechs Monate nach dem Rücktritt von Del Ponte – inhaftiert wurde.

Es war ein später Triumph für die Tessinerin, die selber eine durchzogene Bilanz ihrer Tätigkeit in Den Haag zieht. Zornig war sie, nachdem der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic, einer der mutmasslichen Hauptschuldigen für die Kriegswirren, 2006 in Haft verstorben war. Er entging so einem Schuldspruch.

Auf Kooperation angewiesen

Dem UNO-Tribunal in Den Haag fehlten Machmittel, über welche Gerichte souveräner Staaten verfügen. Sei es für die Ausführung eines Haftbefehls, die Überstellung von Dokumenten oder den Zeugenschutz war das Tribunal stets auf die Zusammenarbeit der jeweiligen Staaten angewiesen.

«Der Mangel an direkten Druckmitteln zwingt das Tribunal, auf politischem Terrain aktiv zu werden», bilanziert Del Ponte. Und so ergeben die Memoiren der ehemaligen Chefanklägerin vor allem das Bild einer Frau, die auf politischer Ebene versuchte, die Interessen des Tribunals durchzusetzen. Von ihrer juristischen Arbeit im engeren Sinne ist weniger die Rede.

Sie weibelte unaufhörlich vor dem UNO-Sicherheitsrat und in den Machtzentren der westlichen Hemisphäre dafür, stärkeren Druck auf Staaten wie Serbien und Kroatien aufzusetzen. Nicht immer mit Erfolg.

«Hören Sie, Madame, es ist mir scheissegal, was Sie denken», wurde sie von CIA-Chef George Tenet angeschnauzt, nachdem sie erklärt hatte, die USA könne mehr tun, damit der als Kriegsverbrecher gesuchte bosnische Serbenführer Radovan Karadzic festgenommen wird.

Auf höchster Ebene

Eindrücklich ist die Liste ihrer politischen Kontakte und Gespräche auf oberster Ebene: Kofi Annan, Colin Powell, Jaques Chirac, Gerhard Schröder oder Javier Solana, um nur einige zu nennen.

Und dann natürlich immer wieder der (später ermordete) serbische Premierminister Zoran Djindjic, der ehemalige Präsident Jugoslawiens und spätere Premierminister Serbiens, Vojislav Kostunica, oder der kroatische Premierminister Ivica Racan.

Del Ponte schildert, wie sie bei diesen Gesprächen angesichts von leeren Versprechungen häufig die Geduld verlor. Oder wie sie bei Besuchen in Belgrad mit beleidigenden Schmierereien auf Hauswänden wie «Carla – die Hure» empfangen wurde.

All dies, so scheint es, prallte aber an der einstigen Mafia-Jägerin weitgehend ab. Von Emotionen ist in diesen – etwas langatmigen – Memoiren jedenfalls kaum je die Rede. Nur ganz selten räumt Del Ponte ein, von einem Ereignis oder von grausamen Zeugenaussagen betroffen oder erschüttert gewesen zu sein.

Die Energie der Giftschlange

Del Ponte schildert auch, wie sie als Kind im Maggiatal heimlich Giftschlangen fing, um ihr Taschengeld aufzubessern. Nachdem sie erwischt worden war, gab sie dieses Hobby zwar auf, doch die Energie blieb in ihrer juristischen Tätigkeit erhalten.

«Bis heute bin ich eher Schlangenfängerin als Rechtswissenschafterin», bilanziert sie in ihrem Epilog. Sie zeichnet sich als Person, die getrieben ist, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen.

Und ganz zum Schluss redet sie den Mächtigen ins Gewissen. Wolle man den Opfern von schweren Verbrechen jemals Gerechtigkeit widerfahren lassen, «dann erfordert dies eine Risikobereitschaft, einen Willen und Anstrengungen, die grösser sein müssen als die Risikobereitschaft, der Wille und die Anstrengungen, welche die schlimmsten Verbrecher unter uns aufbringen, jene, die glauben, über dem Gesetz zu stehen».

Um die Kultur der Straflosigkeit zu durchbrechen, brauche es «wilde Entschlossenheit.» Carla Del Ponte, die nie als unzimperlich galt, hat diese sicherlich unter Beweis gestellt. Nur ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit ist es wohl zu verdanken, dass sich so viele Kriegsverbrecher vor dem Tribunal von Den Haag verantworten mussten.

Gerhard Lob, swissinfo.ch

Am 9. Februar 1947 in Bignasco (Kanton Tessin) geboren.

Internationale Klosterschule Bellinzona (Tessin) und Kloster Ingenbohl in Brunnen (Schwyz).

Studium der Rechtswissenschaften in Bern und Genf (Abschluss 1972).

Zwei Mal verheiratet.

1972-1980: Rechtsanwältin.

1977: Geburt von Sohn Mario in zweiter Ehe.

1980-1988: Untersuchungsrichterin Kanton Tessin.

1988-1994: Staatsanwältin Kanton Tessin.

1994-1999: Schweizerische Bundesanwältin.

1999-2007: UNO-Chefanklägerin in Den Haag für das ehemalige Jugoslawien (bis 2003 auch für Ruanda).

Seit Januar 2008: Botschafterin der Schweiz in Argentinien (Buenos Aires).

Das Jugoslawien-Tribunal klagte bis zum Ende der Amtszeit von Carla Del Ponte 161 Personen aller Parteien aus dem ehemaligen Jugoslawien an.

Del Ponte unterzeichnete während ihrer Amtszeit 62 Anklagen wegen Kriegsverbrechen.

91 Angeklagte wurden in dieser Zeit inhaftiert oder stellten sich freiwillig.

63 Personen wurden verurteilt.

Die italienische Originalausgabe erschien im April 2008 unter dem Titel «La Caccia, Io e i Criminali di Guerra» (Die Jagd, Ich und die Kriegsverbrecher) im Verlag Feltrinelli Editore, Mailand.

Die deutsche Übersetzung wurde im April 2009 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, unter dem Titel «Im Namen der Anklage: Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit» publiziert. Sie folgt indes der amerikanischen Ausgabe.

Diese erschien im Januar 2009 unter dem Titel «Madame Prosecutor: Confrontations with Humanity’s Worst Criminals and the Culture of Impunity» im Verlag Other Press, New York.

Das Buch von Carla Del Ponte entstand in Zusammenarbeit mit dem Journalisten und Buchautor Chuck Sudetic, der von 1990 bis 1995 für die New York Times aus Jugoslawien berichtete.

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