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Die Schönheit von gescheiterten Visionen

Flughafen-Bahnhof bei Lyon: kaum ein Zug hält hier an. Christian Helmle

Während sieben Jahren ist der Fotograf Christian Helmle durch Europa gereist und hat "Weisse Elefanten" gejagt: Das sind meist zu gross geplante und früh geschlossene oder nie in Betrieb genommene Bauten.

Eine Ausstellung im Kunstmuseum Thun und ein Buch zeigen die Ausbeute der fotografischen Reisen.

An einem nebligen Tag im Jahr 1999 fährt der Thuner Fotograf Christian Helmle, 55, durch den Jura Richtung Burgund. Er will den stillgelegten Flusshafen Pagny im Saône-Tal fotografieren und ärgert sich über den Nebel, weil er glaubt, so kein Bild machen zu können.

Dennoch entsteht hier eines der schönsten Bilder des Buches «Weisse Elefanten», in dem Bauruinen aus der Schweiz und ihren Nachbarländern gesammelt sind.

swissinfo: Was interessiert Sie an abblätternden Fassaden, vor sich hin rostenden Baugerüsten und bröckelnden Ruinen?

Christian Helmle: Ich würde mich nicht jahrelang mit diesen Objekten beschäftigen, wenn da nicht diese Anziehung wäre. Das hat mit einer gewissen Romantik zu tun. Gemeinsam ist all diesen Bauten, dass sie nicht zu dem geworden sind, wozu sie gedacht waren. Ich schaue sie als Wesen an, die eine bestimmte Aura haben. Das ist es, was mich anzieht.

swissinfo: Was verbindet den Mystery Park bei Interlaken mit dem wenig benutzten Bahnhof des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava bei Lyon oder dem Atomkraftwerk Zwentendorf bei Wien, das nie in Betrieb genommen wurde?

C.H.: Sie sind Zeugen gescheiterter Visionen – aber lohnenswerte fotografische Sujets. Es geht mir ja nicht nur darum, dieses Scheitern zu dokumentieren.

swissinfo: Es wurden Ressourcen, Energien und Gelder verschwendet.

C.H.: Trotzdem waren viele dieser Objekte im Ansatz gut gedacht. Sie waren innovativ und zeugen von unternehmerischem Geist. Daher habe ich manchmal eine Art Mitleid mit diesen Bauten. Es tut mir weh, zu sehen, dass die nicht «blühen» können.

swissinfo: Auch das Unvollkommene kann schön sein.

C.H.: Ja, es gibt Bauten, die im Rohbau schöner aussehen als im fertigen Zustand, wenn sie fertig verputzt und elegant verschnörkelt werden. Der Rohbau hat etwas Skulpturales.

swissinfo: Was ist das Besondere an den Geschichten, die abgewirtschaftete Gebäude oder gescheiterte Visionen erzählen?

C.H.: Wenn politische Instanzen, etwa Ministerien involviert waren, kann man feststellen, dass durch alle Systeme hindurch so etwas wie ein Charakter des Hauses erhalten bleibt. Ein Beispiel aus dem Buch ist ein jüdisches Kaufhaus in Berlin-Mitte, das 1929 gebaut wurde, nach der Enteignung als Zentrale der Hitlerjugend diente, ab 1946 als Parteizentrale der SED und 1959-95 vom Institut für Marxismus/Leninismus genutzt wurde. Seither steht es leer. Doch die geistige Struktur des Gebäudes blieb erhalten.

swissinfo: Viele dieser Bauten in Deutschland und Frankreich sind Resultate von grössenwahnsinnigen Fehlplanungen. Wie verhält es sich in der Schweiz?

C.H.: Die Schweiz funktioniert anders, sie ist vorsichtiger und kleiner. In der Schweiz habe ich zwei historische Objekte fotografiert. Erstens ein uraltes Projekt aus dem 17. Jahrhundert, der Canal d’Entreroches zwischen Neuenburger- und Genfersee. Das Projekt basierte auf der Idee einer Rhone-Rhein- beziehungsweise einer Verbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer.

Eine andere historische Variante ist die Wetterhornbahn in Grindelwald, das ist die älteste Luftseilbahn der Welt. Die wurde um 1910 gebaut, war ein paar Jahre in Betrieb, dann kam der erste Weltkrieg und das Projekt blieb nach der ersten Etappe stecken.

swissinfo: Gibt es auch Beispiele aus der Gegenwart?

C.H.: Ja, eines ist der Mystery Park bei Interlaken, bei dem das Konzept nicht aufgegangen ist. Dann gibts den Mitholztunnel, ein Lawinenschutztunnel, der neben dem Neat-Tunnel liegt. Zwei Jahre nach seiner Eröffnung musste er wegen Einsturzgefahr gesperrt werden. Er soll aber saniert werden.

swissinfo: Sollen die Gebäude auf den Fotos schön wirken?

C.H.: Unbedingt, das ist mir wichtig. Ich habe immer versucht, die Bauten mit einer gewissen Würde zu sehen. Es ging mir nicht darum, zu zeigen, wie kaputt und angeschlagen sie sind. Nicht alle sind Ruinen. Da ist bedeutende Architektur dabei, etwa von Aldo Rossi, Santiago Calatrava, Hans Kollhoff. Auch wenn sie architektonisch profaner sind, haben sie eine gewisse Schönheit.

swissinfo: Geht es um eine vergleichbare Schönheit, wie man sie in Porträts alter Menschen sehen kann?

C.H.: Ja, bei diesen erschrickt man auf den ersten Blick oft etwas über den körperlichen Zerfall, dann schaut man in die Augen und entdeckt das Lebendige, die Erfahrung, Geschichte, Persönlichkeit. Das ist auch bei den «Weissen Elefanten» so, zu ihnen habe ich eine Liebe entwickelt.

swissinfo-Interview: Susanne Schanda

Ausstellung «Weisse Elefanten» – Fotografien von Christian Helmle im Kunstmuseum Thun: 8. Dezember 2007 – 13. Januar 2008
Künstlergespräch mit Christian Helmle im Rahmen der Ausstellung: 13. Dezember 2007.
Der Bildband «Weisse Elefanten» mit rund 60 Abbildungen und einem Vorwort des Kunstkritikers Konrad Tobler ist im Jovis Verlag Berlin erschienen. Es kostet 45 Franken und kann sowohl im Buchhandel wie direkt beim Autor bestellt werden: foto@christianhelmle.ch

Im Königreich Siam, das dem heutigen Thailand entspricht, galten weisse Elefanten als besonders kostbare und verehrungswürdige Tiere. Mit ihnen konnte der König seinen Glanz und Reichtum zeigen.

Seine Gegner konnte der König ins Verderben stürzen, indem er ihnen einen weissen Elefanten schenkte. Durch den extrem aufwändigen Unterhalt wurde so mancher Beschenkte ruiniert.

Später benutzte man das Bild des weissen Elefanten für die oft überdimensionierten Bauten, die die Kolonialmächte in ihren einstigen Kolonien hinterliessen.

Solche, ihrem vorgesehenen Zweck entfremdete leere und verlassene Bauten stehen nicht nur in Afrika oder den von sozialistischer Planwirtschaft geprägten Ländern.

Aus Fehlplanungen hervorgegangene Bauruinen finden sich auch in Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien und der Schweiz.

Christian Helmle wurde 1952 in Thun geboren und arbeitet seit 1982 als freischaffender Fotograf.

Neben dem Eidgenössischen Stipendium erhielt er zahlreiche Fotopreise und Werkstipendien in Kairo, Tunis und Berlin.

Seine Fotografien wurden in Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Ausserdem hat der Fotograf mehrere Bücher publiziert.

Seit drei Jahren arbeitet Christian Helmle in seinem Atelier in einem stillgelegten ehemaligen Produktionsgebäude der Rüstungsfirma RUAG in Thun.

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