Die Schweiz geht in kleinen Schritten Richtung universelle Gerichtsbarkeit
In der Vergangenheit wurde der Schweiz vorgeworfen, sie gehe bei der Verfolgung von Verbrechen im Ausland zu zögerlich vor. Die Verurteilung eines liberianischen Militärkommandants wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebnet nun den Weg für weitere Verfahren dieser Art.
Die Entscheidung ist historisch: Am 1. Juni wurde der Liberianer Alieu Kosiah durch die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts zu 20 Jahren Gefängnis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Der ehemalige Kommandant der liberianischen Milliz Ulimo (United Liberation Movement of Liberia for Democracy) ist schuldig, im Konflikt in Liberia von 1993 bis 1995 Zivilist:innen getötet zu haben.
Es ist das erste Mal, dass jemand in der Schweiz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden ist. Das Urteil ebnet den Weg für ähnliche Verfahren – aber wirft auch die Frage auf, warum der Abschluss so lange gedauert hat, obwohl in der Schweiz Schweiz bereits 2011 das neue Römer-Statuts in Kraft getreten ist.
Das Statut bildet den rechtlichen Rahmen für extraterritoriale Prozesse. Konkret sieht es die Möglichkeit vor, ein Unternehmen, Schweizer Bürger:innen oder Personen, die in der Schweiz wohnen oder sich dort aufhalten, für in einem Drittland begangene Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Dies ermöglichte unter anderem Ermittlungen gegen Rifaat al-Assad, den Onkel des derzeitigen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, während einer seiner Reisen in der Schweiz.
Historische Entscheidung
Bevor er 2014 verhaftet wurde, lebte Alieu Kosiah unbehelligt in Lausanne am Genfersee. Seine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stand sicherlich nicht von vornherein fest. In der ersten Instanz war Alieu Kosiah 2021 «nur» wegen Kriegsverbrechen schuldig gesprochen worden. Die Bundesanwaltschaft war der Ansicht, dass die Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht für Verbrechen gelten könne, die vor 2011 begangen wurden.
Eine Änderung der Anklage brauchte eine juristische Entscheidung, die von den Zivilkläger:innen gefordert wurde. Um ihre Argumente zu untermauern, betonten sie, dass die von dem liberianischen Staatsbürger begangenen Verbrechen Teil systematischer Angriffe auf die Zivilbevölkerung waren und nicht als «einfache» Kriegsverbrechen angesehen werden können.
Die Bundesanwaltschaft änderte die Anklage schliesslich im Berufungsverfahren aufgrund einer anderen Gerichtsentscheidung des Bundesstrafgerichts im Zusammenhang mit der Ermordung eines iranischen Oppositionellen in der Schweiz im Jahr 1990.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist ein Meilenstein in der Schweizer Rechtsprechung. Alain Werner, Direktor der in Genf ansässigen NGO Civitas Maxima und Spezialist für internationales Strafrecht, sagt: «Konkret bedeutet dies, dass in der Schweiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die vor 2011 begangen wurden, strafrechtlich verfolgt werden können.»
Rolle der NGOs
Es war das Wirken von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Civitas Maxima, das die Durchführung des Prozesses ermöglichte. NGOs führten Ermittlungen vor Ort durch, sammelten Aussagen von Zeug:innen, nahmen Kontakt zu den Opfern auf und reichten Strafanzeige ein. NGOs können vor Ort ermitteln und haben Zugang zu Quellen, die für Staatsanwält:innen schwer zugänglich sind.
Und an Fällen mangelt es nicht. Ab 2011 häufen sich die Fälle in diplomatisch sensiblen Gefilden, wie die Ermittlungen gegen Khaled Nezzar, den ehemaligen Chef der algerischen Streitkräfte.
Generell war es für die Bundesanwaltschaft nie vielversprechend, Verbrechen zu verfolgen, die diplomatische Probleme mit sich bringen. Die finanziellen und personellen Mittel hielten nicht mit den Ambitionen der Bundesanwaltschaft Schritt und die Fälle blieben oft ohne strafrechtliche Folgen. Das Mandat von Laurence Boillat, früher Staatsanwältin für internationales Strafrecht, wurde 2015 nicht verlängert.
Auch NGOs kritisierten die Schweiz stark für ihre langsamen Fortschritte und die Art, wie Ermittlungen durchgeführt werden. Zwei Sonderkommissariate des UNO-MenschenrechtsratsExterner Link befragten den Bundesrat zum «offensichtlichen Mangel an politischem Willen der Schweiz, internationale Verbrechen zu untersuchen» und prangerten die «politische Einmischung» insbesondere des Aussenministeriums an. Dieses habe demnach dem diplomatischen Druck nachgegeben.
«In zehn Jahren haben wir nur die Verurteilung einer einzigen Person erreicht, Alieu Kosiah. Das scheint nicht viel zu sein. Es gab organisatorische Probleme und die Ressourcen, die für diese Art von Verbrechen aufgewendet wurden, waren knapp. Ausserdem hat sich die Bundesanwaltschaft selbst oft geweigert, Ermittlungen einzuleiten, oder beschlossen, sie vorzeitig einzustellen, und dabei einen restriktiven Ansatz in allen rechtlichen Fragen bevorzugt», sagt Raphaël Jakob, der Anwalt eines liberianischen Opfers im Kosiah-Prozess, der auch in anderen Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit tätig ist.
Die Kritik ist umso heftiger, weil die Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Schweden oder Deutschland, die bereits mehrere Prozesse dieser Art geführt haben, eher blass dasteht.
Ende 2021 verurteilte ein Gericht in Hamburg ein deutsch-tunesisches ISIS-Mitglied wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen sexualisierter Versklavung von zwei Jesidinnen in Syrien.
Im Juli 2022 befand Schweden den ehemaligen iranischen Staatsanwalt Hamid Nuri wegen «schwerer Verbrechen gegen das Völkerrecht» und «Mord» für den Tod Tausender politischer Gefangener für schuldig. Es handelte sich um den ersten Prozess gegen einen iranischen Beamten, der an den Säuberungen von 1988 beteiligt war.
«Wenn man sich die Bemühungen einiger Nachbarländer im Kampf gegen die Straflosigkeit und die konkreten Ergebnisse ansieht, wird einem klar, dass die Eidgenossenschaft mehr tun kann und muss», bedauert Benoit Meystre.
Weiter sagt er: «Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Schweiz im Kampf gegen die Straflosigkeit internationaler Verbrechen wieder vorwärtsmacht und dass insbesondere mehr Mittel für die Strafverfolgung bereitgestellt werden.»
Ein Neuanfang?
Für Anwält:innen und NGOs ist das Urteil vom Juni ein guter Ausgangspunkt.
NGOs wie Civitas Maxima oder Trial International begrüssen auch den Antritt eines neuen Bundesanwalts im Januar 2022, der das Thema extraterritoriale Verbrechen ganz oben auf die Liste gesetzt und beschlossen hat, mehr Ressourcen für die Bearbeitung der Fälle bereitzustellen.
Die NGOs nehmen bereits veränderte Einstellung wahr, insbesondere eine grössere Bereitschaft, die Rolle von Schweizer Staatsangehörigen bei der Ausplünderung von Rohstoffen in Konfliktländern zu untersuchen.
Zu den von der Bundesanwaltschaft eingeleiteten Untersuchungen gehören ein «Strafverfahren gegen Unbekannt wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen durch Plünderung» in Libyen und ein weiteres gegen einen Schweizer Geschäftsmann, der im Bergbau im Kongo tätig ist.
Derzeit sind laut dem Jahresbericht 2022 der Schweizer Bundesanwaltschaft rund 30 Voruntersuchungen und Strafuntersuchungen im Gange. Dabei handelt es sich um Anklagen wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die zwischen 1982 und 2022 in 14 Ländern begangen wurden.
Zu den bekanntesten Fällen gehören nach wie vor Rifat Assad, Khaled Nezzar oder die Untersuchung der Ermordung des iranischen Oppositionspolitikers Kazem Radjavi in der Schweiz im Jahr 1990. Vor kurzem wurde eine Untersuchung eingeleitet, um den Angriff auf den Schweizer Journalisten Guillaume Briquet in der Ukraine aufzuklären.
Als nächstes vor einem Schweizer Gericht verantworten muss sich Ousman Sonko, der ehemalige Innenminister von Gambia. Nach einer mehr als sechsjährigen strafrechtlichen Untersuchung erhob die Bundesanwaltschaft vor kurzem Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil er die repressive Politik des ehemaligen Präsidenten Yahya Jammeh unterstützt und sich an ihr beteiligt haben soll.
Er ist das erste Regierungsmitglied, das im Rahmen der sogenannten «Universaljustiz» vor einem europäischen Gericht enden wird.
Der neue Bundesanwalt habe «die Thematik auf seine Tagesordnung gesetzt und den Dialog mit den Akteur:innen der Zivilgesellschaft gefördert, was ich im Vergleich zu den Geschehnissen in der Vergangenheit als sehr positiv empfinde», findet der Anwalt Raphaël Jakob.
Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen von Benjamin von Wyl.
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