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Die Schweiz ist Meister im Erlassen neuer Gesetze

Ob Sonderlabel für importiertes Gerstenmalz oder Autositze für Kinder unter 1m50 – das Parlament sorgt für immer mehr Regeln im Leben. Keystone

Ein Verbot von Wegwerfgeschirr für Take-Away-Food oder eine Gebühr für Velofahrer, die durch die Wälder fahren? Die Flut neuer Gesetze und Gesetzesentwürfe wird von vielen Seiten kritisiert. Fehlt es den Gesetzgebern, also dem Parlament, an gesundem Menschenverstand?

Roger Christeller betreibt einen Imbissstand auf einem öffentlichen Platz inmitten der Bundesstadt Bern. In den letzten zehn Jahr kämpfte er sich durch verschiedene gerichtliche Instanzen, weil ihm der Gebrauch von Papiertellern in seiner Crêperie untersagt wurde. Er ging bis vors Bundesgericht. Auch dort wurde sein Rekurs abgewiesen. 2007 hatten die Stadtbehörden Massnahmen zur Einschränkung von Abfall im öffentlichen Raum eingeführt.

Diese Erfahrung bringt ihn zum Philosophieren, auch weil der Gerichtsentscheid für sein Geschäft negative Auswirkungen hat. «Ich frage mich, ob nicht falsche Gesetze erlassen werden und wo der gesunde Menschenverstand geblieben ist», sagt er.

 «Rostiger Paragraph»

Seit 2007 verleiht die IG FreiheitExterner Link einen Preis für das dümmste und unnötigste Gesetz. Wer die Auszeichnung, den «rostigen Paragraphen», gewinnt, wird in einem öffentlichen Internet-Voting entschieden.

2014 geht der verpönte Preis an die Giordano Bruno Stiftung Schweiz, die weniger Fleisch in öffentlichen Kantinen fordert und die vegane Lebensweise gesetzlich verankern lassen will.

Frühere Gewinner waren:

Der Geschäftsführer des bernischen Waldbesitzerverbands: Er forderte die Einführung einer Waldvignette in der Höhe von 15 Franken für Biker und Reiter.

Der frühere Verkehrsminister Moritz Leuenberger: Seit April 2010 dürfen Kinder bis 12-jährig, die kleiner sind als 150 Zentimeter, in Autos und Schulbussen nur noch in geprüften und gekennzeichneten Kindersitzen mitgeführt werden.

Die Erlassung neuer Gesetze hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten nahezu verdoppelt.

Eine Gruppe von Mitte-Rechts-Politikern und Wirtschaftsleuten, vor allem aus der Deutschschweiz, will nun intervenieren, um diese «Gesetzesflut» einzuschränken.

Diese Lobby-Gruppe verleiht seit 2007 jedes Jahr  eine Auszeichnung für das «dümmste und unnötigste Gesetz», in der Hoffnung, so die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für ihr politisches Ziel zu wecken.

Für Gerhard Pfister, christlich-demokratischer Nationalrat aus dem Kanton Zug und Geschäftsleiter einer Privatschule, hat die jährliche Preisverleihung in einem schicken Zürcher Restaurant eine klar humoristische Note. «Aber es ist wichtig, dass man sich trifft, um diesen ganzen Gesetzesprozess zu hinterfragen», sagt er.

An einer Veranstaltung wetterte Peter Brabeck, Verwaltungsratspräsident des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé, gegen den «behördlichen Wahnsinn». 

«Wenn eine Firma 80 Prozent ihrer Arbeitszeit darauf verwenden muss, dass sie regelkonform wirtschaftet, bleibt keine Zeit für Strategien, um die Firma vorwärts zu entwickeln», sagte er in einer Rede nach der Annahme der Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» im Februar, welche die Einführung von Kontingenten für ausländische Arbeitskräfte verlangt.

Mea culpa

Den Fall von Alois Gmür, Mitbesitzer der Brauerei Rosengarten in Einsiedeln, würden einige wohl als paradox bezeichnen. Die steigende Zahl von Vorschriften und Regeln am Arbeitsplatz, wie etwa spezielle Arbeitskleidung, akribische Beschriftungen von Sammelstellen für Notfälle in der Fabrik oder Sonderlabels für importiertes Gerstenmalz treiben ihn manchmal fast zur Verzweiflung.

Gmür ist für den Verkauf in der regionalen Brauerei in der Ortschaft im Kanton Schwyz verantwortlich, die für ihr Benediktiner Kloster und die Schwarze Madonna aus dem 15. Jahrhundert bekannt ist. Er ist auch ein halbes Leben lang politisch aktiv und sitzt im Schweizer Parlament.

«Alles wird immer komplizierter. Dabei wird man fast wahnsinnig», meint er achselzuckend.

Das Rauchverbot in den meisten Restaurants habe zu einem Rückgang des Bierverkaufs geführt, und der zunehmende Papierkram, den es für die Behörden zu erledigen gebe, schaffe zusätzlichen bürokratischen Aufwand.

Der 59-Jährige ist sich aber bewusst, dass er zumindest teilweise selber schuld ist. Als Abgeordneter gehört er dem gesetzgebenden Organ an und ist von den Aktivitäten vieler seiner Parteikollegen, die immer neue Ideen für mehr Vorschriften lancieren, irritiert. Gemäss seiner Einschätzung haben viele dieser Regeln keinen Realitätsbezug.

Alec von Graffenried, Präsident der Rechtskommission des Nationalrates, sagt, man sei sich im Prinzip unter den Parlamentariern einig, dass zu viele Gesetze das Leben nicht unbedingt einfacher machten.

Komme man jedoch zur Sache, dann würden viele Politiker ihre Interessen verteidigen und Bedenken in den Wind schlagen. «Eine etwas umfassendere Sichtweise geht dann oft vergessen.»

«Es sind vor allem die widersprüchlichen Bedürfnisse, die zu dieser regulatorischen Hektik führen. Die Bürger wollen Gewissheit und Klarheit.» (Christa Hostettler)

Mehr, aber nicht zwingend besser

Bis zu einem gewissen Grad wird diese Meinung von Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, geteilt.  In einer Kolumne in der Neuen Zürcher Zeitung(NZZ) kritisierte er den Aktivismus des Parlaments. «Die Qualität der Bundesgesetzgebung befindet sich seit der Jahrtausendwende in einer markanten Abwärtsbewegung.»

Griffel macht das Parlament, die Verwaltung und die allgemeine Änderung der Einstellung für «die Erosion der Gesetzgebungskultur» verantwortlich.

Aufgrund der Vielzahl an Auflagen und Regeln, die durch ein Gesetz ausgelöst werden, ist es nicht einfach, die Zunahme an Vorschriften auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene zu quantifizieren. Die folgenden Zahlen dürften jedoch eine Idee vermitteln.

Externer Inhalt

Ein weiterer NZZ-Artikel befasst sich mit Änderungen im Strafgesetzbuch. Während in den 1970er-Jahren solche eher selten vorkamen, wurden zwischen 2008 und 2013 pro Jahr im Schnitt acht Änderungen in Kraft gesetzt.

Druck nimmt zu

Christa Hostettler, Rechtskonsulentin der Stadt und des Kantons Bern sieht die wachsende Zahl von Vorschriften und Gesetzen als Folge eines Lebens, das immer vernetzter wird.

Persönliche Ambitionen von Politikern, angefacht durch die Medien oder durch den Druck von Behörden auf nationaler oder EU-Ebene, tragen ebenfalls zu dieser Gesetzes-Prozedur bei.

«Es sind vor allem die widersprüchlichen Bedürfnisse, die zu dieser regulatorischen Hektik führen. Die Bürger wollen Gewissheit und Klarheit.»

Die Expertin erklärt dies anhand der städtischen Raumplanung, wo die Regierung einen gewissen Spielraum habe, wo aber immer mehr Regeln eingeführt würden.

Ein weiteres Beispiel ist die zunehmende Reglementierung im Strassenverkehr. «Vor der Einführung eines komplexen Systems über Geschwindigkeitsbeschränkungen und Verkehrsampeln gab es eine Grundregel: Es lag an jedem Einzelnen, abzuschätzen, was richtig war», erklärt sie.

Glaubwürdigkeit

Hostettler meint aber, dass die Zivilisation nicht einfach einem zwangsläufigen Prozess gesetzlicher Überaktivität unterliege. Sie plädiert für einen pragmatischen Umgang und einer sorgfältigen Prüfung möglicher Auswirkungen bei der Rechtsanwendung.

«Es braucht Mut zur Lücke, wenn es keinen überzeugenden Grund gibt, zu handeln. Gerichte haben die Aufgabe, eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen. Ein abweisendes Gerichtsurteil ist nicht per se schlecht, sondern zeugt auch von einem funktionierenden System von ‹Checks and Balances'», so Hostettler.

Laut der Expertin sollten Rechtsexperten nicht nur neue Gesetze schaffen, sondern unnötige Reglementierungen vermeiden. Manchmal sei die Verbesserung bereits bestehender Gesetze die richtige Antwort.

«Zu viele Gesetze und insbesondere schlecht angewendetes Recht kann die Glaubwürdigkeit des Staates untergraben.»

Es bestehe das Risiko, dass die Bürger so das Vertrauen in die Institutionen verlieren würden und die zuständigen Behörden ihre Pflichten nicht mehr ausüben könnten. Die Regierung und das Parlament hätten die Kompetenz, Gesetze aufzuheben.

«Das Problem ist, dass sich niemand zuständig fühlt», so Hostettler.

Ein wiederkehrendes Anliegen

Bedenken über zu viel Gesetzeseifer sind seit langem ein Thema liberaler Politiker.

In den letzten Jahren hat die Schweizer Regierung immer wieder über Wege zur Begrenzung der Zahl von Regeln und Reglementen diskutiert.

Im Rahmen einer Verwaltungsreform hatte sich der Bundesrat 2005 bereit erklärt, überholte Gesetze abzuschaffen.

Die Schweizer Monatshefte, ein liberales Polit

-Magazin, hatte 1984 einen Essay des damaligen Justizministers Rudolf Friedrich veröffentlicht. Darin kritisierte er die Gesetzesflut als eine «schleichende Krankheit». Er kam zum Schluss, dass es sich beim Kampf gegen diese Aktivität weitgehend um eine Symptomtherapie handle. Stattdessen forderte er eine umfassende Diskussion über die Gründe für diesen Umfang an Vorschriften.

(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

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