Ehemalige UdSSR-Staaten: Anerkannt nach 15 Minuten
Dokumente von 1991 zeigen, dass Bern schnell einen Umgang mit den Staaten aus der ehemaligen UdSSR fand. Von der damaligen Einfachheit ist heute nur noch wenig übrig.
Die Schweiz überlebte die Zeit des Kalten Krieges als neutraler Staat auf der westlichen Seite. Seit den 1970er Jahren wareine gewisse Berechenbarkeit im Verhältnis mit der UdSSR eingetreten: Die Schweiz fürchtete sich zwar noch vor sowjetischen Panzern an den Ufern des Bodensees, in Wirklichkeit aber war diese Bedrohung auf ein Minimum reduziert.
1991 stürzte die bipolare Welt, in der sich die Schweiz eingerichtet hatte, zusammen. Die politische Führung der Schweiz begann zu überlegen, wie ihre Politik gegenüber dem Osten aussehen sollte. Neu öffentlich gemachte Akten geben einen Einblick, wie Bern seine Haltung gegenüber den nun ehemaligen Sowjetrepubliken formte.
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Als die Mauer fiel, schaute die Schweiz erstarrt zu
Grosse Meinungsverschiedenheiten gab es in dieser Frage keine. Die Schweiz war eines der ersten Länder in Westeuropa, das die neuen Mitgliedstaaten offiziell anerkannte. «Es ist dies nebst der frühen Anerkennung der Volksrepublik China am 17. Januar 1950 eine der wenigen Abweichungen von der üblichen Anerkennungspolitik der Schweiz», betont Sacha Zala, Direktor des Forschungs- und Entwicklungszentrums des Schweizerischen Diplomatischen Dokumentationsarchivs (Dodis).
Anfang Dezember 1991 gründeten die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Weissrusslands die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und zogen damit einen Schlussstrich unter die seit genau 67 Jahren bestehende Sowjetunion. Die Experten des Schweizer Außenministeriums, die über die offizielle Position der Schweiz in dieser Frage berieten, empfahlen, nicht mit der Anerkennung der Staaten der ehemaligen UdSSR zuzuwarten — wenn sie sich um Anerkennung bemühen und klar sei «dass der Punkt der Unumkehrbarkeit» erreicht ist.
Dieser «point of no return» war aus Sicht der Schweiz am 21. Dezember 1991 erreicht, als die übrigen Länder das Abkommen von Alma Ata unterzeichneten und damit Michail Gorbatschow entmachteten und der GUS beitraten. Nur zwei Tage später, kurz nach Mittag, hielt der Bundesrat eine Telefonkonferenz ab, um den Antrag des Aussenministeriums auf völkerrechtliche Anerkennung und Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Russischen Föderation, der Ukraine, Weissrussland, Kasachstan, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan zu erörtern.
Nach einer nur 15-minütigen Diskussion entschloss sich der Bundesrat zur Anerkennung und verabschiedete damit den letzten Beschluss des Schweizer Bundesrates aus dem Jahr 1991.
Dankbarkeit gegenüber der Schweiz
Die frühere Anerkennung der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken lohnte sich: So schrieb Jean-Pierre Ritter, Schweizer Botschafter in Moskau, in einem Telegramm nach Bern, ihm begegne auf seinen Reisen in die Nachfolgerepubliken der UdSSR jedes Mal Dankbarkeit dafür, «dass wir die ersten in Westeuropa waren, die die neuen Staaten anerkannten, und auch die ersten, die vor Ort erschienen sind, um die Aufnahme von Beziehungen zu formalisieren».
Die Schweiz hat auch auf materielle Weise von der Entstehung neuer Staaten auf der Weltkarte profitiert. Nach dem Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen wollte sich Bern eine komfortable Position in den Vorständen der Weltbank und des Währungsfonds sichern. Die Schweiz hat daher unter eigenem Vorsitz eine Gruppe mit einem gemeinsamen Stimmrecht in diesen Strukturen eingerichtet, der Turkmenistan, Kirgisistan, Usbekistan und Aserbaidschan sowie Polen angehören, und führt deren Vorsitz. Später schlossen sich Kasachstan und Tadschikistan der sogenannten ’Helvetistan-Gruppe’ an.
«Durch ihr Engagement in Zentralasien konnte sich die Schweiz Einfluss in diesen internationalen Finanzorganisationen sichern», so Thomas Bürgisser, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dodis.
Ein Dilemma
1991 schien die Schweiz überhaupt kein Problem damit zu haben, ihre Aussenpolitik in der ehemaligen Sowjetunion zu gestalten und umzusetzen. Auf welchen Prinzipien beruhte sie? Eine aussagekräftige Quelle zur Beantwortung dieser Frage ist eine Motion, die der sozialdemokratische Abgeordnete Hans-Jürg Fehr zwanzig Jahre später im März 2011 an die Schweizer Regierung richtete, um die Strategie Berns innerhalb der Helvetistan-Gruppe «neu auszurichten», denn sie solle «sich bezüglich Art und Intensität der Beziehungen deutlich unterscheiden von Beziehungen zu demokratischen Staaten.» Damit brachte der NationalratExterner Link die Besonderheit der Situation im postsowjetischen Raum auf den Punkt: Denn insbesondere was den Aufbau einer modernen Demokratie betrifft, ging die politische Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken nach 1991 in sehr unterschiedliche Richtungen.
Der Bundesrat antwortete mit einer sehr allgemeinen These, die noch immer die Grundlage der Schweizer Aussenpolitik — nicht nur — gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken bildet (mit Ausnahme der baltischen Länder, die inzwischen der EU beigetreten sind).
«Die Schweiz ist (…) bestrebt, stabile und möglichst universelle Beziehungen zu unterhalten. Unser Land zieht eine Kultur des Dialogs einer Kultur des Ausschlusses und der Blockbildung vor». Diese Bestimmungen sind auch heute noch gültig.
Keine einheitliche Politik
Doch 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterscheiden sich die ehemaligen Sowjetrepubliken in ihren Entwicklungsmodellen noch stärker voneinander als 1991. Russland ist als Nuklearmacht und Mitglied des UN-Sicherheitsrats weiterhin der politisch und wirtschaftlich mächtigste Partner Berns. Die Schweiz hätte gerne ein Freihandelsabkommen mit Moskau nach chinesischem Vorbild abgeschlossen, aber seit der russischen Annexion der Krim, die die Schweiz nicht anerkennt, liegen die Verhandlungen aufs Eis. Bern möchte nun ein nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates werden und Russlands Stimme wird dabei sicherlich eine Rolle spielen.
Die Ukraine ihrerseits hat sich für eine europäische Perspektive entschieden und die Schweiz unterstützt sie aktiv bei der Durchführung grundlegender sozioökonomischer Reformen. Im Sommer 2022 wird Lugano Gastgeber der nächsten internationalen Konferenz Externer Linküber Reformen in der Ukraine sein.
Weissrussland war seit langem ein wichtiger Türöffner für die Schweizer Wirtschaft nach Osteuropa: Stadler Rail baut dort seine Züge zusammen. Die negative politische Entwicklung in diesem Land hat die Schweiz, die nicht allzu lange her eine vollwertige Botschaft in Minsk eröffnet hat, allerdings einmal mehr vor die schwierige Frage gestellt, was Vorrang haben sollte: Menschenrechte oder wirtschaftliche Profite.
Die jüngsten Spannungen und Kriege zwischen Aserbaidschan und Armenien sind ein weiteres Beispiel für dieses Dilemma, angesichts der Partnerschaft zwischen dem Schweizer Konzern Migros und dem staatlichen aserbaidschanischen Ölunternehmen SOCAR. Die Schweiz baut ihre Beziehungen zu Georgien in den Bereichen Klima und Landwirtschaft aktiv aus. In Kirgisien koordiniert Bern grenzüberschreitende Initiativen im Wassermanagement sowohl politisch als auch technisch.
Im Jahre 1991 aber lagen all diese Entwicklungen jedoch noch in der unvorhersehbaren Zukunft.
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