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Die unerbittliche Fusion der Gemeinden

Bei der Kehrichtabfuhr in Winterthur stellt sich die Frage von Gemeinde-Fusionen - Rationalisierung steht an. Imagepoint

Die Schweiz zählt heute 200 Gemeinden weniger als vor 10 Jahren. Der Politologe Andreas Ladener zu den Folgen der Gemeinde-Zusammenschlüsse.

Im Gespräch mit swissinfo sagt der Politologe, die Bevölkerung akzeptiere diese Fusionen, die das Herz des Schweizer Föderalismus träfen, nur widerwillig.

Der Politologe und Soziologe Andreas Ladner arbeitet im Kompetenzzentrum für Public Management an der Universität Bern. Ab dem kommenden April ist er ordentlicher Professor für Schweizerische Verwaltung und Staatspolitik am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP) in Lausanne.

swissinfo: Im Kanton Waadt hat der Gemeindefusions-Prozess an der Urne erneut eine Niederlage erlitten. Handelt es sich dabei um eine Ausnahme oder um eine erstarkende Tendenz in der Schweiz?

Andreas Ladner: Es ist eher die Regel als eine Ausnahme. Es braucht oft mehrere Volksabstimmungen, bis solche Fusionen zustande kommen. Das Thema wird in der Schweiz immer wichtiger, wobei die Sensibilisierung in gewissen Regionen grösser ist.

Der Kanton Freiburg zum Beispiel hat am meisten Gemeindefusionen hinter sich; dies weil sie generell kleiner Natur sind. Noch heute hat die Hälfte der Freiburger Gemeinden weniger als 500 Einwohner. Auch im Kanton Tessin ist es zu mehreren Gemeinde-Zusammenschlüssen gekommen.

Der Kanton Zürich und die Kantone der Innerschweiz haben wesentlich grössere Gemeinden. Die Notwendigkeit von Fusionen ist dort also weniger gross.

swissinfo: Warum braucht es diese Zusammenschlüsse?

A.L.: Die kleinen Gemeinden stellen fest, dass sie ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen können. Sie finden keine Leute mehr, die bereit sind, eine Funktion in der Exekutive oder in der Verwaltung zu übernehmen und sie haben auch die Mittel nicht, um diese hundertprozentig zu entlöhnen.

In anderen Fällen bestätigt die Fusion eine langjährige Zusammenarbeit von Gemeinden offiziell. Oder der Kanton, der einen Zusammenschluss als notwendig erachtet, hilft mit einer Finanzspritze nach.

swissinfo: Haben die Gemeinden heute mehr Aufgaben zu erledigen?

A.L.: Ganz bestimmt. Aber Aufgaben und Kosten von Schweizer Gemeinden sind im Vergleich mit den Gemeinden in anderen europäischen Ländern gering. Und dies, weil in der Schweiz eine Struktur zwischen der Gemeinde und dem Nationalstaat existiert: der Kanton.

Das Resultat: Eine Schweizer Gemeinde mit 2000 Einwohnern oder weniger hat einen sehr kleinen Manövrier-Spielraum. Aber Schweizerinnen und Schweizer übersehen diese Realität gerne, denn Gemeinde und Kanton stehen im Mittelpunkt ihrer politischen Kultur.

swissinfo: Welchen Einfluss hat die Wirtschaft auf diese Debatte?

A.L.: Dank dem Einfluss der Wirtschaft kam die Frage der Kosten auf allen Ebenen der Staatsstruktur aufs Tapet. Eine heilsame Frage, die vor einigen Jahren noch schwierig zu stellen gewesen wäre.

Allerdings dürfen wir nicht alles durch diesen Zerrspiegel betrachten. Gewisse Vorteile unseres Kantons- und Gemeindesystems lassen sich nicht allein an ihren Kosten messen.

swissinfo: Verändert das wachsende Gewicht der Städte in der Schweiz das System?

A.L.: Heute gibt es tatsächlich Städte, die sich zu vergrössern suchen, indem sie benachbarte Gemeinden absorbieren. Das ist beispielsweise in Lugano und Luzern der Fall.

Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen geht die Tendenz in Richtung Aufbau der Zentren, der Metropolen. Die neue Raumplanungspolitik bestätigt übrigens diesen Paradigmenwechsel: Von der Dezentralisierung zur Schaffung von Metropolen, von deren Entwicklung alle profitieren.

Das ist also das Ende eines föderalistischen Konzepts, das allen Regionen, auch den rückständigsten, die gleichen Leistungen aufgezwungen hat. Heute hat man realisiert, dass dies sehr teuer ist.

Dazu ist es für die Wirtschaft lebenswichtig, dynamische Zentren zu entwickeln.

swissinfo-Interview: Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

Mitte der 1990er-Jahre wurden noch über 3000 Gemeinden gezählt, heute sind es weniger als 2800.

Mehr als die Hälfte der Gemeinden haben weniger als 1000 Einwohner. 4% aller Gemeinden zählen über 10’000 Einwohner.

Über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt in Gemeinden mit über 10’000 Einwohnern.

Die Schweizer Gemeinden gehören zu den kleinsten in Europa. Nur in Frankreich, Griechenland und Island gibt es noch kleinere.

Die Schweizerin, der Schweizer ist zuerst Bürger einer Gemeinde und eines Kantons und erst dann Schweizer Bürger.

Gemeinden und Kantone haben ihre eigenen Behörden (Regierung, Parlament), die vom Volk gewählt werden.

Die Gemeinden haben in verschiedenen lokalen Fragen Entscheidungs-Gewalt. In anderen Fällen führen sie die Beschlüsse der Kantone oder der Eidgenossenschaft aus.

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