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Antisemitismus in der Schweiz

Diffuse Judenfeindschaft: Ausschreitungen in der aufgeklärten Republik

Jüdische Abgesandte verehren eine allegorische Figur
Vertreter der Juden als Bittsteller vor der Grafschaft Baden - dargestellt als weibliche Allegorie. Das Gebäude im Hintergrund, stellt die alte Synagoge von Lengnau dar. (Johann Rudolf Holzhalb 1768) Zentralbibliothek Zürich

Jahrhundertelang war jüdisches Leben auf dem Gebiet der heutigen Schweiz von Diskriminierung geprägt. Ab 1798 hofften Anhänger:innen der Aufklärung auf rechtliche Gleichstellung. Doch bis dahin war es ein steiniger Weg.

Am 21. September 1802 versammelte sich eine Horde von rund 800 Personen, um die jüdischen Gemeinden von Lengnau und Endingen zu attackieren. Im Morgengrauen zogen sie über die Hügel, um bis zum späten Nachmittag zu wüten. Die anwesenden Jüdinnen und Juden wurden drangsaliert, ihre Häuser demoliert, ihr Besitz geraubt.

Dabei handelte es sich nicht um eine spontanen Gewaltausbruch, sondern um eine konzertierte Aktion. Unter den Plündernden waren Angehörige verschiedener Milieus: Bäuerinnen und Handwerker, ehemalige Söldner und Patriziersöhne, Reformierte und Katholiken. Die einen hoch zu Ross, die anderen zu Fuss, bewaffnet mit Gewehren, Säbeln oder Heugabeln.

Ordnungskräfte, die den Aufruhr beenden sollten, kamen viel zu spät in den beiden Dörfern an, und waren zu schwach aufgestellt, um die Meute zu beruhigen. Die Ausschreitungen nahmen erst ein Ende, als die Angreifenden müde wurden und von sich aus abzogen. Wie konnte es zu so einer Attacke kommen?

Kein Recht auf Niederlassung

Vom beginnenden 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts schwankte jüdisches Leben auf dem Gebiet der heutigen Schweiz zwischen Duldung und Vertreibung. Ein Recht auf freie Niederlassung existierte nicht. Jüdinnen und Juden mussten einen sogenannten Schutz- und Schirmbrief erwerben, der den Schutz der Herrschaft gewährte, aber auch gewisse Pflichten und Abgaben auflistete.

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In den Städten waren Juden als Ärzte, Buchdrucker oder Geldleiher willkommen. In ländlichen Gebieten waren sie insbesondere als Vieh- und Pferdehändler oder als Hausierer tätig. Wobei in den Städten meistens nur einzelne jüdische Familien lebten, während sich auf dem Land auch grössere jüdische Gemeinden bildeten.

Ihr Leben war durch von einer Vielzahl diskriminierender Sonderregelungen geprägt: Berufsverbote, Verbot von Häuserbesitz, Wachstumsbeschränkungen für die jüdischen Gemeinden und Sonderzölle. Dabei galten je nach Herrschaftsgebiet unterschiedliche Bestimmungen. An einzelnen Orten wurde sogar für das Benutzen von Brücken Gebühren verlangt, die nur für Jüdinnen und Juden galten.

Schutz- und Schirmbriefe wurden für eine bestimmte Zeitspanne ausgestellt. Ihre Erneuerung war nie sicher: Oft mussten die jüdischen Familien weiterziehen. Zudem kam es trotz Schutzstatus oft zu Vertreibungen. Die Politik gegenüber Jüdinnen und Juden war geprägt von willkürlichen Entscheidungen, wirtschaftlichen Konjunkturen und religionspolitischen Auseinandersetzungen.

Ab dem 18. Jahrhundert beschränkten sich die jüdischen Niederlassungen im Allgemeinen auf das Gebiet der Grafschaft Baden, das jüdische Surbtal erlebte eine Blütezeit. 1750 erhielten die jüdischen Gemeinden von Lengnau und Endingen nahe der Stadt Baden von der Eidgenössischen Tagsatzung die Erlaubnis, einen zwischen den beiden Dörfern gelegenen Friedhof anzulegen. Im gleichen Jahr wurde in Lengnau eine Synagoge errichtet. 1764 bauten die jüdische Gemeinde von Endingen ihrerseits eine Synagoge.

Grabsteine an einem jüdischen Friedhof
Die alten Gräber des Friedhofs aus dem 18. Jahrhundert sind von Moos überwachsen. Ester Unterfinger /swissinfo.ch

Die Zahl der jüdischen Familien entwickelte sich rasch. Zwischen 1761 und 1774 wuchs sie von 94 auf 180 Haushalte. Ökonomisch waren die jüdischen Siedlungen im Surbtal wegen ihrer Nähe zum Rhein und zum Messe-Ort Zurzach attraktiv.

Diskussionen über die Ausweisung

Auch im Surbtal wurden Stimmen laut, die eine Vertreibung der Jüdinnen und Juden forderten. Allerdings verfügte auch die christliche Bevölkerung der Grafschaft Baden über wenig Rechte: Die Region war Untertanengebiet, sie wurde von der Eidgenossenschaft gemeinsam verwaltet.

In der Tagsatzung, eine Versammlung, an der die Gesandten der eidgenössischen Herrschaftsorte gemeinsame Geschäfte besprachen, wurde eine Ausweisung der jüdischen Gemeinden in regelmässigen Abständen debattiert. Wobei die katholischen Herrschaften jeweils eine Vertreibung der Juden forderten, wenn die Reformierten mit der Verwaltung des Gebiets betraut waren, und die Reformierten umgekehrt für eine Vertreibung votierten, wenn die Katholiken an der Macht waren. Die Darstellung der anderen Konfession als «judenfreundlich» diente dazu, um das eigene Lager als «Hüter des wahren christlichen Glaubens» – der keinen Raum für Andersgläubige liess – zu inszenieren.

Es blieb allerdings bei der symbolpolitischen Ebene. Die von den Herrschaften vor Ort eingesetzten Landvögte stellten sich gegen alle Vertreibungsbeschlüsse. Der Verkauf von Schutz- und Schirmbriefen war für sie ein lukratives Geschäft.

Alteingesessene als Fremde

Am 12. April 1798 ging es mit diesem Herrschaftssystem der alten Eidgenossenschaft zu Ende: In Aarau wurde die Helvetische Republik ausgerufen, die sich am Vorbild der Französischen Republik orientierte – und auch mit französischer Waffenhilfe durchgesetzt worden war. Die alte Herrschaftsordnung, die sich durch ihr Gottesgnadentum legitimierte, wurde durch die revolutionäre Ordnung einer zentralstaatlich organisierten Demokratie abgelöst.

Die rechtlosen Untertanengebiete, wie etwa die Grafschaft Baden, wurden zu gleichberechtigten, demokratisch konstituierten Kantonen umgewandelt. Leibeigenschaft, Feudallasten, Folter und Leibesstrafen wurden abgeschafft. Für Angehörige des Christentums wie auch des Judentums.

Anhänger der Aufklärung forderten die Einführung der Menschen- und Bürgerrechte und die Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden – wie sie in Frankreich im September 1791 umgesetzt wurde.

Johann Jakob Suter, ein Arzt aus Zofingen, appellierte an die Gleichheit aller Menschen:

«Was die Politik betrifft, so kann und darf ich sie nicht berühren, sobald die Constitution mir befiehlt, dass jeder Fremde, der 20 Jahre lang ununterbrochen in Helvetien gelebt hat, ein Bürger dieses Landes sein soll. Unter diesen Bedingungen werde ich jeden Menschen, er sei Heide, Türke, Hottentot oder Irokese, als meinen Bruder und Mitbürger umarmen. […] Nur der Name Jude schreckt euch schon!»

Die Gegner:innen der Gleichberechtigung bezeichneten sie als Fremde: Sie seien nicht bloss Angehörige einer anderen Religion, sondern auch eines anderen Volkes. Dabei argumentierten sie mit tief verwurzelten Vorurteilen: Indem «Jude» und «Judas» – der Verräter Jesu in der Bibel – rhetorisch gleichgesetzt wurden, wurde behauptet, dass Jüdinnen und Juden meineidig seien und ein jüdischer Schwur keine Bedeutung habe.

Entsprechend solle man von ihnen nicht verlangen, einen Bürgereid auf die Helvetische Republik abzulegen.
Die judenfeindliche Fraktion setzte sich durch: Die Schweizer Jüdinnen und Juden – auch solche, deren Familien seit Generationen im Surbtal lebten – wurden unter das Fremdengesetz gestellt.

Diffuse Motivationen 

Die Zeit der Helvetik war eine Zeit rasanter Umbrüche und intensiver Gewalterfahrung. Französische, österreichische und russische Truppen kämpften in der Helvetischen Republik, es kam zu Übergriffen auf die lokale Bevölkerung und zur Beschlagnahmung von Besitz und Lebensmitteln. Die alten Eliten – aber auch Teile der ehemaligen Untertanen – lehnten die Helvetische Republik ab. Die Ordnung wackelte.

Im September 1802 lancierten die Gegner:innen der Republik einen flächendeckenden Aufstand, den Stecklikrieg, es gelang, die Regierung der Helvetischen Republik vorübergehend zu stürzen. Das fragile staatliche Gewaltmonopol war beseitigt.

Die Angriffe auf Endingen und Lengnau geschahen in diesem Machtvakuum: Antijüdische Krawalle und Pogrome finden meistens dann statt, wenn ein Gewaltmonopol vorübergehend fehlt.

Nach den politischen Turbulenzen wurde im Kanton Baden eine neue Regierung eingesetzt. Deren Haltung gegenüber jüdischen Menschen war auch ambivalent. Allerdings war sie daran interessiert, die «Räubereyen» vom 21. September 1802 aufzuklären. Sie setzte eine Untersuchungskommission ein, die Geschädigte, Zeug:innen und Täter:innen vorlud. Die Angreifer:innen der jüdischen Gemeinden wollten aber nicht unbedingt die Helvetische Republik stürzen – die Protokolle bieten einen einzigartigen Einblick in die diffusen Motivationen des Judenhasses.

Die Anhänger:innen der alten Ordnung diffamierten die Jüdinnen und Juden als Agenten der Revolution und griffen sie als Günstlinge der neuen Ordnung an. Dabei konnten sie sich an Verschwörungsfantasien anlehnen, die mit der konservativen Kritik an der Französischen Revolution internationale Verbreitung fanden: Die Juden als geheime Drahtzieher der Revolution, welche die christliche Ordnung stürzen und die Weltherrschaft erlangen wollten.

Revolutionär gesinnte Bauern, die sich ebenfalls am Zwetschgenkrieg beteiligten, argumentierten gerade umgekehrt und sahen die Juden als Profiteure des Ancien Régimes. Sie meinten, sie hätten unter den Geschäften der jüdischen Händler genauso gelitten, wie unter den Feudallasten der alten Herrschaft.

Andere legitimierten ihr Handeln durch Stereotypen aus dem Repertoire des religiösen Antijudaismus: Die Jüdinnen und Juden als Feinde des Christentums, als Synagoge des Satans. Ein Teil der Angreifenden beteiligte sich im direkten Anschluss an den Ausschreitungen an eine katholische Prozession. Wieder andere verwiesen auf Gerüchte, die davon handelten, wie ein Jude einem Christen den Unterkiefer abgeschnitten habe. Sie gaben zu Protokoll, dass sie ins Surbtal zogen, um sich für den angeblich verstümmelten Christen zu rächen.

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Nicht zuletzt haben ökonomische Motive eine Rolle gespielt. So kam es während den Ausschreitungen zu immensen wirtschaftlichen Schäden auf jüdischer Seite, zur Zerstörung von Schuldscheinen und zum Raub jüdischer Güter.

Von der Helvetik zur Emanzipation

Nach dem Zerfall der Helvetischen Republik im Mai 1803 wurden zuvor gewährte Rechte weitgehend zurückgenommen. Zahlreiche Kantone erliessen Markt- und Hausierverordnungen, die spezifisch gegen jüdische Händler gerichtet waren. Im Kanton Aargau beinhaltete das Judengesetz von 1809 ähnliche Bestimmungen, wie sie in den alten Schutz- und Schirmbriefen enthalten waren. Erst mit dem aargauischen Organisationgesetz von 1824 und dem aargauischen Schulgesetz von 1835 wurden die Stellung der jüdischen Gemeinden von Lengnau und Endingen modernisiert.

Bis die Jüdinnen und Juden als gleichberechtigte Bürger:innen anerkannt wurden, sollte es allerdings noch eine Weile dauern. Erst mit der Revision der Bundesverfassung von 1866 wurde ihnen – auf Bundesebene – freie Niederlassung und Gleichheit vor dem Gesetz gewährt: mit der zweiten Revision der Bundesverfassung von 1874 schliesslich auch die freie Ausübung des Gottesdienstes. Auf kantonaler Ebene wurden sie im Kanton Aargau – als letztem Kanton der Schweiz – am 1. Januar 1879 mit vollen Bürgerrechten ausgestattet.

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