Rätoromanisch mit Volksabstimmungen retten?
Die älteste Sprache der Schweiz ist vom Untergang bedroht. Kann die direkte Demokratie Rätoromanisch retten? Und wer soll überhaupt abstimmen dürfen?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, die direkte Demokratie sei der beste Freund des Rätoromanischen: Bereits 1938 anerkannte die Stimmbevölkerung in einer nationalen Abstimmung mit 91,6% Ja-Stimmen Rätoromanisch als vierte Landessprache – selten war ein Verdikt an den Urnen so eindeutig. In romanischen Dörfern läuteten an diesem Tag die Kirchenglocken.
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In einer weiteren nationalen Volksabstimmung von 1996 wurde Rätoromanisch mit einer 76-Prozent-Mehrheit als Teilamtssprache des Bundes anerkannt. Das heisst: Rätoromanisch sprechende Bürger und Bürgerinnen können mit den Bundesbehörden auf Rätoromanisch korrespondieren, und bestimmte Regierungstexte (wie beispielsweise das Abstimmungsbüchlein) werden auf Rumantsch Grischun publiziert. Vor 1996 war der Kontakt mit den Behörden bloss auf Französisch, Deutsch und Italienisch möglich.
Im dreisprachigen Kanton Graubünden ist Rätoromanisch nebst Deutsch und Italienisch bereits seit 1880 offizielle Sprache. Die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen werden dort regelmässig zu den Urnen gerufen, um über ein romanisches Thema abzustimmen: 2007 hiessen sie beispielsweise ein Gesetz gut, wonach in Gemeinden mit mindestens 40% Romanen als einzige Amtssprache Rätoromanisch gilt – auch wenn 60% der Bevölkerung deutschsprachig sind. Das kantonale Parlament wollte mit dieser – mathematisch eher absurden – Regel der schleichenden Germanisierung im rätoromanischen Sprachraum entgegenwirken.
Zentralismus ist Gift für Minderheitensprachen
Die Resultate der nationalen und kantonalen Volksabstimmungen zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung dem Rätoromanischen ziemlich wohl gesinnt ist. Und zwar im Allgemeinen auch dort, wo gar kein Rätoromanisch gesprochen wird. Ausnahme von der Regel bilden deutschsprachige Enklaven in romanischen Gebieten. So haben es beispielsweise die Stimmberechtigten der Gemeinden Vals und Samnaun Ende der 1990er-Jahre abgelehnt, an ihren Schulen Rätoromanisch als Fremdsprache zu unterrichten.
Fehlende Basisdemokratie rächt sich in der Schweiz
Seit Jahren tobt ein Streit darüber, welches Rätoromanisch im öffentlichen Leben verwendet oder an den Schulen unterrichtet werden soll: Eines der fünf Idiome oder die Kunstsprache «Rumantsch Grischun»? Bund und Kanton verwenden die Kunstsprache. Auch die romanische Dachorganisation (Lia RumantschaExterner Link) setzt sich für das Rumantsch Grischun ein. Sie stützte den Kanton, als dieser 2003 aus Spargründen beschloss, Lehrmittel nur noch auf Rumantsch Grischun herauszugeben. Die Dachorganisation gilt aber als demokratisch schwach legitimiert. Und in der Schweiz rächt sich das schnell: Die romanischsprachige Bevölkerung ist wenig überzeugt vom Rumantsch Grischun und wehrte sich mit Initiativen und GerichtsverfahrenExterner Link. Es wurde der Verein «Pro IdiomsExterner Link» gegründet, der die Gegenbewegung anführt. Inzwischen wird an einigen Schulen wieder ein Idiom unterrichtet.
In zentralistischen Ländern ohne direkte Demokratie, wie beispielsweise Frankreich, sind lokale Minderheitssprachen stark verdrängt worden. Ist die direkte Demokratie also der Rettungsanker für Rätoromanisch? Corsin BisazExterner Link vom Zentrum für Demokratie Aarau winkt ab: «Eine Sprache kann man nicht mit Instrumenten retten, auch nicht mit der direkten Demokratie.» Aber man könne mit der direkten Demokratie Grundfragen klären, beispielsweise die Frage zur umstrittenen Kunstsprache Rumantsch Grischun (siehe Box).
Abstimmen sollen nur die Betroffenen
Laut Bisaz kann die direkte Demokratie im Falle von Rätoromanisch sogar nachteilig sein, weil die Rumantschia (die Rätoromanisch sprechende Bevölkerung) im Kanton Graubünden in der Minderheit sei. «Die Deutschschweizer im Kanton Graubünden sind eher für die Kunstsprache Rumantsch Grischun, während die Rätoromanen selbst tendenziell ihre Idiome bewahren wollen.» Da stelle sich die Frage, ob ein kantonaler Volksentscheid überhaupt legitim sei.
Bisaz erinnert an die Abstimmung von 2001, als es um die Frage ging, ob das Rumantsch Grischun für die Abstimmungsunterlagen die beiden bisher verwendeten Idiome ersetzen soll. «Im Gesamtkanton fand die Vorlage eine klare Zustimmung, in Gemeinden mit einem mindestens 30-prozentigen Anteil Romanischsprachige wurde sie hingegen abgelehnt.»
Am besten fände es Bisaz, wenn die ganze Rumantschia in der Schweiz über die Frage abstimmen würde, zum Beispiel mittels elektronischer Abstimmung. Es sei immer schon eine Stärke der Schweiz gewesen, die Direktbetroffenen entscheiden zu lassen. Dass nicht der Wohnsitz für die Stimmberechtigung entscheidend ist, sondern die Sprachzugehörigkeit, wäre in der Schweiz jedoch ein Novum. «Staatrechtlich ist mein Vorschlag utopisch», gibt Bisaz denn auch zu.
So unterschiedlich sind die rätoromanischen Idiome
Deutsch: Der Fuchs war wieder einmal ausgehungert.
Rumantsch Grischun: La vulp era puspè ina giada fomentada.
Sursilvan: L’uolp era puspei inagada fomentada.
Sutsilvan: La vualp eara puspe egn’eada fumantada.
Surmiran: La golp era puspe eneda famantada.
Puter: La vuolp d’eira darcho üna vouta famanteda.
Vallader: La vuolp d’eira darcheu üna jada fomantada.
Dieser Text ist Teil einer Mini-Serie über Rätoromanisch in der direkten Demokratie.
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