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Der grösste Umsturz in der Geschichte der Schweizer Politik

Arbeiter versammeln sich im November 1918 während des Generalstreiks in Bellinzona
November 1918: Arbeiter versammeln sich während des Generalstreiks in Bellinzona. Es war auch diese schwere Krise, die zum Ja zur Proporz-Initiative beitrug. Keystone


Für die einen ist es Langeweile pur, für die anderen ein Baustein ihres Erfolgs: Die Schweiz ist ein Hort der politischen Stabilität. Exakt vor 100 Jahren aber hat ein Erdbeben die Schweizer Politlandschaft erschüttert und für immer verändert: Bei den Parlamentswahlen 1919 beendeten die Stimmbürger die Vorherrschaft der radikalen Staatsgründer.

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Es floss kein Blut. Vielmehr wurde der Freisinn, der den Schweizer Bundesstaat seit dessen Gründung 1848 gewissermassen in Alleinherrschaft regierte, in die Schranken gewiesen: Per Wahlzettel. 1919, bei den Wahlen in den damals 189-köpfigen Nationalrat, die grosse Kammer des Schweizer Parlaments.

Statt Pistolen und Gewehre ebnete ein zutiefst demokratischer Akt den Weg in die Konsensdemokratie: 1918 hatten die Schweizer Stimmbürger mit Zweidrittels-Mehrheit Ja gesagt zu einer Volksinitiative, die den Umstieg auf das Verhältniswahlrecht forderte.

1917, während des Ersten Weltkriegs, war die letzte Parlamentswahl erfolgt, noch unter dem Majorzsystem. Die nächsten Wahlen hätten turnusgemäss 1920 stattfinden sollen. Aber unter dem Druck des Generalstreiks von Ende 1918 wurden die Wahlen um ein Jahr vorgezogen – einmalig in der Geschichte der Schweiz.   

Die Nationalratswahlen 1917 und 1919: Die Resultate spiegeln praktisch zwei verschiedene Schweizen. Dies zeigt die folgende Grafik:

Externer Inhalt

Die Nationalratswahl von 1917 zeigt die Schweiz noch als «politischen Besitz» der Freisinnigen. Drei Jahre später katapultiert das neue Wahlverfahren die Sozialisten zur zweitstärksten Kraft, zusammen mit den Katholisch-Konservativen.

Grösste Profiteurin der Neuerung aber ist die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei: Die Partei der Scholle, die sich 1971 neu zur Schweizerischen Volkspartei formierte, schnellt von vier auf 29 Sitze hoch. 

Der Aufschwung der rechtskonservativen SVP, seit Ende der 1990er-Jahre stärkste Partei im Land, nahm also genau hier, bei den Eidgenössischen Wahlen 1919, seinen Anfang. Dank einer Volksinitiative, die vom linken Lager stammte, also vom Klassenfeind.

Majorz und Proporz

Bei Majorzwahlen siegt die Partei mit den meisten Stimmen auf der ganzen Linie, nach dem Motto «The Winner takes it all». Wer die Stimmenmehrheit erzielt, kriegt alle Sitze. Kleine Parteien sind benachteiligt.

Bei Proporzwahlen werden die Sitze im Verhältnis der Stimmen verteilt, die eine Partei erhält. Die Abbildung des Wählerwillens ist genauer und kleine Parteien haben bessere Chancen, Sitze zu erzielen.

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