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Warum das Parlament wieder tagen muss

Claude Longchamp, Politikwissenschafter und Historiker

Die Parlamente sind lahmgelegt. Gleichzeitig gibt die Schweiz Geld aus wie noch nie. Es mag sein, dass beim Tun der Landesregierung und ihrem Beamtenstaat alles seine Richtigkeit hat. Aber Kontrolle und Dialog darüber wären besser. Eine Analyse von Claude Longchamp.

An Ostern meinte Philipp Hildebrand im Interview mit der «NZZ am Sonntag»: «Wir bewältigen die Corona-Krise absolut demokratisch. Ich finde, das sollte jeden Schweizer Bürger mit Stolz erfüllen.»

Ich finde, der ehemalige Direktionspräsident der Schweizerischen Nationalbank und jetzige Vice Chairman des weltweit grössten Vermögensverwalters Blackrock macht es sich zu einfach.

Warum Notrecht nötig ist

Das gegenwärtig geltende Notrecht hat seinen Grund in der Coronakrise. Ziel ist die Vermeidung eines Kollapses der Spitalversorgung. Massnahmen, die dazu mit Notrecht ergriffen werden, können ohne gesetzliche Grundlage sein, wenn sie diesem übergeordneten Zweck dienen und verhältnismässig sind. Und vor allem befristet.

Claude Longchamp
在瑞士资讯swissinfo.ch的专栏中,瑞士政治历史学家Claude Longchamp对瑞士民主予以一针见血的批评。 swissinfo.ch

Erst nach Ablauf der vorgesehenen sechs Monate für das Notrecht muss der Bundesrat dem Parlament Rechenschaft ablegen.

Die Rechtslehre sagt, selbst das Ritzen demokratischer Prinzipien kann in Kauf genommen werden, wenn das Notrecht nicht andauert.

Ständeratspräsident Hans Stöckli sieht keinen Grund zur Sorge: «Der Bundesrat macht seine Arbeit gut», sagte er gegenüber Schweizer Radio SRF. Die Bürger und Bürgerinnen sehen es ähnlich: Mehrheiten vertrauen dem Bundesrat und akzeptieren selbst Einschränkung der Bewegungsfreiheit.

Parlamentsarbeit auch unter erschwerten Bedingungen funktionsfähig halten

Dennoch war es nicht zulässig, die Einberufung von Parlamenten mit der Einschränkung des Versammlungsverbots per Dekret zu verhindern.

Das Zürcher Kantonsparlament wehrte sich: Seine Tätigkeit sei Arbeit und weit mehr als ein Parteitag, nur einen solchen könne man mit einem Versammlungsverbot untersagen.

Mit Grund: Das Parlament ist die wichtigste demokratisch gewählte Institution. Sie ist legitimiert, darüber zu entscheiden, was gilt und was nicht. Parlamente müssen das unabhängig von Direktiven einer Regierung machen können.

Hinderlich ist letztlich nur die Raumfrage. Social Distancing muss während der Parlamentsarbeit möglich sein. Der Kanton Zürich entschied sich deshalb, auf einen deutlich grösseren Tagungsraum auszuweichen.

Das Eidgenössische Parlament will gleich vorgehen. Am 4. Mai findet eine Sondersession in den geräumigen Berner Expo-Hallen statt. Am 2. Juni findet dann am gleichen Ort die nächste ordentliche Session statt. 

Organisatorisch ist das Problem also bewältigt.

Das politische Leben ging trotz des Lockdowns weiter

Demokratiepolitisch erscheint es mir auch zwingend, dass Parlamente selbst in Krisenzeiten tagen. Trügerisch wäre es nämlich zu meinen, ohne Sessionen stehe das politische Leben still.

Die Exekutive hat mit dem Notrecht nicht nur mehr Macht bekommen. Sie wird auch von einem neuen medizinischen Expertengremium beraten. Nötige Entscheidungen fällt der Bundesrat, doch sollen sie fachlich begründet sein, damit er zielgerichtet handeln kann.

Die Sozialpartner lobbyieren angesichts der ausserordentlichen Staatsausgaben und Kreditvergaben zum Schutz der in Not geratenen Betriebe und Unternehmen mehr denn je. Denn diese produzieren Verteilkämpfe, bei denen gilt: Wer hat, dem wir gegeben, wer nicht hat, wird übergangen.  

Auch Kantonsregierungen sind verstärkt aktiv. Sie sehen sich ihrer Kantonsbevölkerung gegenüber unmittelbar verpflichtet. Dafür widersprechen sie sogar dem Bundesrat, trotz seiner ausgeweiteten Kompetenzen. Nicht immer geht das konfliktfrei ab, wie Sonderregelungen im Kanton Tessin zeigten.

Man kann also so sagen: Der Exekutivstaat ist mit der Corona-Krise gestärkt worden, aber die Legislative ist geschwächt!

Da ist ein Ausgleich angezeigt.

Kontrolle der Macht und Aufzeigen von Alternativen

Demokratie braucht Parlamente für die Kontrolle der Regierungsmacht, und die Legislative muss aufzeigen, wie eine Alternative zum Status quo aussieht.

Die Politikwissenschaft nennt ersteres «Gewaltenkontrolle». Es gilt auch, Privilegierungen oder Diskriminierung ganzer Gruppen zu verhindern. Nur: Die Gewaltenkontrolle ist momentan nur beschränkt möglich.

Die Politikwissenschaft geht noch weiter. Demokratie wird ausgehöhlt, wenn Politik alternativlos betrieben wird und es gar nichts mehr zu entscheiden gibt. «Postdemokratisch» nennt sie das. Dabei bestehen alle demokratischen Institutionen noch, aber sie erfüllen ihren eigentlichen Zweck nicht mehr. Dieser besteht darin, den öffentlichen Diskurs über alle politischen Themen, auch als «Deliberation» bezeichnet, zu gewährleisten.

Aktuell ist das nicht möglich.

Die Übergangsphase vorbereiten

Natürlich weiss ich, dass es genau diese Erwartungen unter Notrecht nicht geben kann! Ich weiss aber auch, dass es Sinn macht, drei Phasen einer Krise zu unterscheiden: die akute, den Übergang und die neue Normalität. Gegenwärtig sind wir am Ende der ersten, rutschen unweigerlich in die zweite.

Die Anzeichen sind unverkennbar: Vor wenigen Tagen brach der Burgfriede unter den politischen Parteien aus der Startzeit der Ausnahmesituation. Parteien von der rechtskonservativen SVP bis zu den Grünen stellen unterschiedliche Forderungen, wie die Zukunft zu bewältigen sei. Es gibt keinen Konsens mehr, kein Zusammenstehen in der Krise.

An die Oberfläche – in den Medien lebendig verhandelt – kommen wieder die offenen Grundsatzfragen. Die Leitfrage ist, wie die Schweiz neu ausgerichtet werden soll:

● Ohne grosse Änderungen gegenüber dem Status quo ante oder als rundum widerstandsfähige Gesellschaft?

● Mit mehr europäischer Beteiligung oder im Rückzug auf den eigenen Raum?

● Wie mit der Klimawahl 2019 vorgezeichnet?

● Oder mit einer rigorosen Verzichtsplanungen, um die Staatsfinanzen zu schonen?

Leadership für die Demokratie zeigen

Der Ort, wo das alles gültig geregelt werden kann, ist nicht die Frontseite einer Zeitung. Es ist das vom Volk und den Kantonen gewählte Eidgenössische Parlament.

Gefragt sind weder Politikerprofilierungen noch Parteiengezänk. 

Dafür Leadership für die Demokratie.

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