Unterschriften sammeln geht jetzt digital – und was es bedeutet
Politische Kampagnen finden den Weg ins Internet: Auf der neuen Seite wecollect.ch sammeln Komitees und Aktivisten Online-Unterschriften für Initiativen und Referenden. Damit ist die direkte Demokratie der Schweiz im digitalen Zeitalter angekommen. Die digitale Demokratie bringt neue Dynamik ins System. Aber auch Risiken für dessen Zusammenhalt und Glaubwürdigkeit.
Ein Klick zur Wahl des politischen Begehrens, drei Felder zum Ausfüllen (Name, Vorname und E-Mail) – und Sie können ein Formular ausdrucken, unterschreiben, falten und in ein Kuvert stecken – Porto vom Empfänger bezahlt. Dann werfen Sie es in einen Briefkasten – fertig.
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«E-Campaigning steckt in der Schweiz noch in den Kinderschuhen»
Künftig könnte dies die Art sein, wie man Unterschriften für Initiativen und Referenden sammelt, die Hauptinstrumente der direkten Demokratie. Heute bauen Aktivisten an einem möglichst gut frequentierten Standort einen Stand auf oder sie gehen mit dem Bogen direkt auf die Passantinnen und Passanten zu.
Der Start wecollectExterner Link.ch im April zeigt das Potenzial des neuen Instruments der digitalen Demokratie: Innert weniger Tage kamen für drei Begehren 27’200 Unterschriften zusammen. Urheberin der ersten Initiativen sind die sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) und andere Gruppen aus dem linken Spektrum.
Das ist kein Zufall. Zwar positioniert sich die Site als eine unabhängige Non-Profit-Plattform, inhaltlich aber ist das Kriterium vorgegeben, dass sie nur politisch «umsichtigen» Initiativen und Referenden offensteht.
Es ist eine blosse Frage der Zeit, bis die politische Rechte mit einer entsprechenden eigenen Version aufwartet.
Der Impact
Der Start von wecollect.ch kam selbst für die meisten Akteure der Schweizer Politik unerwartet. Dabei war es wie so oft in den letzten Jahren die konservative Rechte, die den Weg wies. «Die Kampagne der Schweizerischen Volkspartei (SVP) für die letzten Parlamentswahlen markierten den Beginn einer Revolution in der politischen Kommunikation der Schweiz.
Sie nutzte konsequent die sozialen Netzwerke und das Internet als Quelle der Information und insbesondere zur Mobilisierung», sagt Politikwissenschaftler Lukas GolderExterner Link vom Forschungsinstitut gfs.bern.
Die Strategie zahlte sich aus: Bei den Wahlen im Oktober 2015 machte die SVP-Fraktion im Bundeshaus einen Sprung von 54 auf 65 Sitze im Nationalrat. Mit dem launigen Videoclip «Welcome to SVPExterner Link» – in Mundart und mit elektronischer Musik unterlegt – sprach die Rechtspartei auch viele Junge an. Der Clip ging «viral», wurde er doch bis heute nicht weniger als 900’000 Mal angeklickt.
Ein paar Monate später war es aber die Linke, die mit einer digitalen Offensive von sich reden machte. Für Furore sorgte nicht ein hipper Clip, sondern eine kohärente und fokussierte Mobilisierungskampagne der neu formierten «Operation Libero» in den sozialen Medien, die von Beobachtern als «beispiellos» taxiert wurde.
Start-up ohne kommerzielle Ziele
Initiant Daniel Graf hat wecollect.ch mit «einigen Tausend Franken» eigenem Geld gegründet. Die definitiven Strukturen will er mit dem Start-up bis Ende Jahr erreichen. «Wir bleiben aber eine Nonprofit-Organisation», sagt Graf.
Partner ist Donald Kaufmann, ein Student, der 2015 mit einer Crowdfunding-Aktion Aufsehen erregte. Kaufmann sammelte 140’000 Franken und schaltete für diese Summe ein ganzseitiges Inserat im Gratisblatt 20minuten gegen die mächtige Propagandamaschinerie der rechtsnationalen SVP
Zentrale Idee von wecollect.ch ist der erleichterte Zugang für kleinere Organisationen zu den Instrumenten der direkten Demokratie. Diese haben meist nicht die nötigen Mittel dazu. «Wir wollen nur Vermittler sein. Wir sind nur zu zweit, also liegt es nicht an uns, die politische Agenda zu diktieren», sagt Daniel Graf.
Damit erreichte die neue politische Bewegung an Spitzentagen rund eine halbe Million Userinnen und User und sammelte für ihre – genauestens getimte – Kampagne die sehr stolze Summe von 1,2 Mio. Franken. Damit trug Operation Libero am 28. Februar zum überraschend klaren Nein zur Durchsetzungs-Initiative der sieggewohnten SVP bei.
Dynamische, innovative Kampagnen sind in der Schweiz nichts Neues. 1989 stimmte über ein Drittel für die Abschaffung der Armee. Oder 1992, als der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) hauchdünn verworfen wurde. Damals gab es weder Mobiltelefone noch Internet.
«Bei der EWR-Abstimmung haben mehr als zehn Prozent jener, die an die Urnen gegangen sind, auch an einer Veranstaltung der Kampagnen teilgenommen – ein Rekord, der seither niemals erreicht wurde», sagt Lukas Golder. Deshalb sei die Mobilisierung auf der Strasse sehr präsent gewesen. «Damals war das Fernsehen noch DAS Massenmedium. Heute ist es immer noch stark, büsst aber langsam an Bedeutung ein.»
An die Stelle des TV treten immer stärker die sozialen Medien. Sie sind die neuen Massenmedien. Paradoxerweise sind sie aber sehr individuell ausgerichtet – jeder und jede kann sich in die eigene «Blase» einschliessen und dort nur Informationen sehen, die einen interessieren. Auch lese man so nur Meinungen, die sich mit der eigenen decken, wie Golder sagt.
Nicht zu schnell!
In einer Zeit mit der Devise «Alles ins Internet» scheint die Geburt von wecollect.ch nur logisch. Initiant Daniel GrafExterner Link war zuvor Sekretär der Grünen Partei im Kanton Zürich und Sprecher von Amnesty International. Aktuell engagiert er sich in der Kampagne für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Seine neue Sammelplattform versteht er als «schnelles, effizientes und virales» Instrument.
Als Basis sieht Graf die Mitgliederlisten von Parteien, Gruppierungen aus dem links-grünen Spektrum sowie von NGOs. «Wer sich auf eine lebendige Community stützen kann, die sich per E-Mail aktivieren lässt, besitzt einen wahren Schatz.»
Digitale Unterschrift zum Kampfpreis
Niemand weiss genau, wie teuer eine Volksinitiative zu stehen kommt. Sinnigerweise ist die erste Initiative mit digitaler Unterschriftensammlung jene der Sozialdemokraten zur Einführung der transparenten Parteienfinanzierung. Die Schweiz kennt als einziges Land Europas keine entsprechende Gesetzesregelung.
Unterschriften für Initiativen werden von Aktivisten und Sympathisanten des Begehrens auf der Strasse gesammelt. Es gibt aber auch Firmen, die Personal zur Unterschriftensammlung als Dienstleistung verkaufen.
Der ganze Prozess, also vom Drucken der Unterschriftenbögen bis zur Einreichung bei der Bundeskanzlei, bedeutet aber einen grossen Aufwand. Lukas Golder schätzt, dass die Sammlung von 100’000 Unterschriften für eine Initiative zwischen einer halben und einer ganzen Million Schweizer Franken kostet. Das sind fünf bis zehn Franken für jede Unterschrift.
wecollect.ch verspricht markant tiefere Preise. Das Dokument zum Unterschreiben, das man zuhause ausdruckt, ist mit einer Briefmarke frankiert, die ab einer gewissen Menge zu 53 Rappen zu haben ist. 100’000 Bogen kosten also 53’000 Franken. Aber auch bei der digitalen Variante kommen noch weitere Kosten dazu.
Daniel Graf ist aber überzeugt, dass mit seinem Modell der Preis für eine Signatur letztlich unter einem Franken liegen wird.
Auf den ersten Blick scheint das alles sehr verheissungsvoll für die direkte Demokratie. Wird der Zugang zu deren Instrumenten durch das Internet erleichtert, wird diese dynamischer und lebendiger.
Aber es gibt auch Risiken, wie bei jeder Entwicklung. Politikexperte Lukas Golder ortet solche insbesondere bei der Beschleunigung der politischen Prozesse. «Man hat dies schon beim Aufkommen des Fernsehens beobachtet: Je mehr so genannt schnelle Medien es gibt, desto schneller muss die Politik reagieren.
Aber die Schweizer Politik hat normalerweise keine hohe Reaktionsgeschwindigkeit, sondern lebt in erster Linie von der Suche nach dem Kompromiss, die teils Jahre dauern kann,» so der Mitarbeiter von gfs.bern.
Mit wecollect.ch trete man noch einmal in andere Dimensionen. Wenn dank neuer Methoden das Sammeln von Unterschriften sehr einfach und billig werde, gebe es eine neue Beschleunigung. «Dann besteht das Risiko, dass wir Bagatellforderungen haben, Initiativtexte, die nicht gut ausgearbeitet sind oder dass man schlicht zu wenig Zeit hat, über alle Eventualitäten nachzudenken.»
Zu viele Initiativen machten zudem die Politik unübersichtlich, sowohl für die Bürger wie auch für die Medien. Gerade letztere aber hätten nach wie vor die Aufgabe, zu erklären und einzuordnen.
Trotzdem: Wir stecken noch in den Anfängen der digitalen Demokratie, und Beobachter Lukas Golder verfolgt gespannt, wie sich die Dinge entwickeln werden. In erster Linie helfe das neue digitale Instrument, Aufmerksamkeit und Interesse für die Politik zu wecken.
«Das ist für unser Milizsystem sehr wichtig, insbesondere in den Gemeinden, denn dies ist die Ebene, die den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten ist. Deshalb wird diese Entwicklung für die Schweiz sehr wichtig sein», ist Golder überzeugt.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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