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«Demokratie ist die artgerechteste Haltung der Menschen»

Die Podiumsrunde im Politforum Käfigturm
Diskutierten im Politforum Käfigturm in Bern über "Das Lokale als Laboratorium für die direkte Demokratie" (von links): Stephan Lausch, Südtirol/Italien, Ines Mateos, Thomas Göttin (Gesprächsleiter), Nadja Braun und Bruno Kaufmann. swissinfo.ch

Trump, Xi Jinping, Putin, Bolsonaro, Narendra Modi in Indien: Männer, die grosse Länder mit starker Hand beherrschen – von oben. Doch gleichzeitig wird Demokratie von unten immer stärker. In Bern diskutierten Expertinnen und Spezialisten, was es braucht, damit Demokratie auf nationaler Ebene funktionieren kann.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

Es sind wahrlich keine einfachen Zeiten für die Demokratie: Mit den USA, China, Russland, Indien und Brasilien sind fünf der grössten Länder der Erde in der Hand von populistischen und nationalistischen Autokraten.

«Wie Demokratien sterben»: Dies der Titel der aktuell wohl meistdiskutierten Analyse der Gegenwart. Damit haben die beiden Autoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt einen internationalen Bestseller gelandet.

Rettung der Welt nur mit mehr Demokratie

Doch dieser pessimistischen Sicht hält Stephan Lausch von der Initiative für mehr Demokratie in der italienischen Provinz Bozen und Südtirol entschieden entgegen. «Demokratie ist die ‹artgerechteste Haltung›, welche die Menschen selbst realisieren können.»

Sie biete ihnen die Möglichkeit, selber Verantwortung zu tragen und sich für Gerechtigkeit einzusetzen. «Die Rettung der Welt kann sicher nur durch viel mehr Demokratie geschehen,» sagt Lausch in kernigem Deutsch des Südtirols.

Dieses «mehr» an Demokratie vollzieht sich vorwiegend auf lokaler Ebene. Denn der klassische Bottom-Up-Ansatz ist die Grundidee der Demokratie.

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Und was findet das Publikum? Renat Kuenzi sprach nach dem Podium live mit Gästen.

«Auf lokaler Ebene ist direkte Demokratie immer gefragter», sagt Ines Mateos vom Institut für eine neue Schweiz (INES). Es ist dies ein Think Tank, der gesellschaftspolitische Fragen aus migrationsspezifischer Warte betrachtet.

Lausch und Mateos diskutierten im Politforum Käfigturm in Bern zum Thema «Das Lokale als Laboratorium für die direkte Demokratie». Mit ihnen debattierten Nadja BraunExterner Link, Assistenzprofessorin an der Universität Zürich und am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) sowie Bruno Kaufmann, Demokratiespezialist und swissinfo.ch-Korrespondent für globale Demokratie. Er schrieb auch die Texte der Ausstellung «Moderne direkte Demokratie», in deren Rahmen die Podiumsdiskussion stattfand. 

Weltweit wollen immer mehr Menschen darüber mitbestimmen, wie die unmittelbare Lebenswelt aussehen soll, in der sie und ihre Kinder leben.

Und hier spielt die Schweiz eine Rolle als Demokratie-Inkubator. «Ich danke der Schweiz für ihre Rolle als Vorbild und für ihre Unterstützung. Die Provinz Südtirol hat mit der Volksinitiative und dem Referendum die beiden Säulen der direkten Demokratie erfolgreich eingeführt«, sagt Lausch.

Ähnliches berichtet Nadja Braun. Die Assistenzprofessorin an der Universität Zürich und am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) erinnert sich an ihren ersten Telefonanruf, den sie erhielt, als sie 2012 eine neue Stelle am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer antrat. «Es war eine Anfrage des Bundeslandes Baden-Württemberg, wie man eine Abstimmungsbotschaft schreibt.»

Brauns Expertise war der Startschuss zu einer intensiven Zusammenarbeit. Die Behörden Baden-Württembergs spannen seither eng mit den Schweizer Demokratie-Forscherinnen und -Forschern vom ZDA zusammen. Das Resultat: Das Bundesland ist heute die Nummer 1 in Sachen Bürgerbeteiligung in Deutschland.

«Stuttgart 21»

Die Süddeutschen Behörden handelten nicht ohne Grund: Auslöser waren Massenproteste gegen «Stuttgart 21». Es war dies das umstrittene Grossprojekt eines Bahnhofs-Neubaus. Diese Demonstrationen führten 2011 zu einem Umsturz an der Wahlurne und machten Baden-Württemberg zum ersten Bundesland mit grüner Regierung.

Der Wunderformel auf der Spur

Existiert so etwas wie eine Erfolgsformel für Demokratie, fragt Gesprächsleiter Thomas Göttin. Nadja Braun nannte einen lokalen, politisch-historischen Kontext. Damit könnten gerade Städte zu ihrer eigenen, individuellen Prägung von Bürgerbeteiligung und Lokaldemokratie finden. «Es braucht aber auch den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu Information. Ohne solchen gibt es keine Beteiligung.»

Informationen müssten von den Bürgern auch verstanden werden, deshalb sei politische Bildung Bedingung, sagt Elena Mateos.

Für die schweizerisch-spanische Doppelbürgerin stehen noch zwei Punkte im Vordergrund: Erstens ein transnationaler Fokus. «Bis im Alter von 40 Jahren hatte ich in der Schweiz als meiner neuen Heimat kein Stimmrecht. Dies ist die Realität vieler Menschen in der heutigen Schweiz. Heute kann ich in beiden Ländern abstimmen und wählen.» Für Mateos ist in einer Demokratie auch die Fähigkeit wichtig, Widerspruch und Widersprüche auszuhalten.

Die Güte einer Demokratie beginnt für Bruno Kaufmann bei ganz Selbstverständlichem: den Räumen. Also mit der Infrastruktur. Wie dem Politforum Käfigturm, Schauplatz für öffentliche Debatten.

Oder dem State Capitol in Honolulu. Kaufmann hatte dieses wie auch über 20 weitere Stationen 2017/18 auf einer Demokratie-Reise rund um die Welt besucht. Darüber hat er auch auf swissinfo.ch berichtet.

Türmen oder Verbarrikadieren unmöglich

Im State Capitol, in der Hauptstadt des US-Bundesstaats Hawaii gelegen, gehört das Erdgeschoss des Sitzes von Regierung und Parlament den Bürgern.

Von dort aus können diese in den Lift steigen und direkt zu ihrem Gouverneur oder einem anderen Amtsträger gelangen, ohne dass sich diese verkrümeln können. Denn das mehrstöckige Gebäude verfügt über keine Hinterzimmer.

Lokaldemokratie als Treiber demokratischer Entwicklungen auf höherer, nationaler Ebene: Dies ist eine Haupterkenntnis, die Kaufmann aus seiner Demokratie-Tour zieht. «Die Beispiele von Südkorea und Taiwan im asiatischen Raum zeigen, dass lebendige Lokaldemokratien historische Verkrustungen auf nationaler Ebene lösen können.»

Bürgerbeteiligung als Rückschritt

Nächste Frage an die Runde: Sind die neuen, partizipativen Formen der Bürgerbeteiligung eine Ergänzung der bisherigen direkten Demokratie oder eine neue Form?

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Die Podiumsdiskussion in voller Länge

Baden-Württemberg versuche, so Nadja Braun, die Bürgerbeteiligung mit ihren zahlreichen Formaten von beratenden Gremien mit der direkten Demokratie zu vereinen. «Für die Schweiz wäre dies aber ein Rückschritt, denn ich will keinen Dialog darüber, ob wir über eine Vorlage abstimmen dürfen.»

Skepsis auch bei Ines Mateos. Für sie ist Bürgerbeteiligung eine Alibiübung, die allenfalls die Deliberation stärken könne. «Aber sie produziert Frustrationen, weil die Bürger ein grosses Engagement zeigen, das für die Politik und Verwaltung aber unverbindlich ist.»

«Politische Schönwetteridee»

Der Standpunkt von Bruno Kaufmann: «Bürgerbeteiligung ist die Schönwetteridee der politischen Partizipation. Aber diese ist gerade dann gefragt, wenn es regnet oder stürmt.»

Die brasilianische Stadt Porto Alegre, Austragungsort des ersten Welt-Sozialforums, sei mit ihrem Bürgerbudget Pionierstadt der Bürgerbeteiligung gewesen. «Bei den Präsidentenwahlen im Oktober 2018 aber stimmte die Stadtbevölkerung mit grosser Mehrheit für Bolsonaro», sagt Kaufmann.

Ausschluss als Problem

Beim Stichwort Inklusion zeigt sich, dass auch die von Lausch so hoch gelobte Demokratie Schweiz ihre Schattenseiten hat. «Ich finde es gar nicht ok, wenn 25%, also ein Viertel der Bevölkerung, vom Stimmrecht ausgeschlossen ist. Dadurch entsteht ein gefährliches Ungleichgewicht, gerade in der direkten Demokratie Schweiz.»

Die Megacity Los Angeles schliesse gar über die Hälfte ihrer Bürgerinnen und Bürger vom Stimmrecht aus, berichtet Kaufmann. «Ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt, welche Argumente kommen, um andere auszuschliessen.»

Ausstellung «Moderne direkte Demokratie»

Die Podiumsveranstaltung im Politforum Käfigturm fand im Rahmen der Ausstellung «Moderne direkte Demokratie»Externer Link statt. Autor der Ausstellung und der begleitenden Broschüre ist Bruno Kaufmann, der als Korrespondent für globale Demokratie auch für swissinfo.ch arbeitet. Die Schau informiert die Besucherinnen und Besucher über die Instrumente der direkten Demokratie in der Schweiz, ihre Geschichte sowie die Mechanismen, wie sie in der Schweiz funktioniert.

Konzept und Design stammen vom Schweizer Aussenministerium (EDA). Als Herausgeberin fungiert die EDA-Abteilung Präsenz Schweiz, Gezeigt wird die Ausstellung von den diplomatischen Vertretungen der Schweiz in den verschiedensten Ländern rund um den Globus.


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