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«Wir erleben die Kolonialisierung der direkten Demokratie»

Demonstration in Bratislawa gegen die slowakische Regierung nach dem Mord an einem Journalisten und seiner Verlobten.
Demonstration in Bratislawa gegen die Regierung der Slowakei nach dem Mord an Investigativjournalisten Jan Kuciak einem und seiner Verlobten. Die Teilnehmer werten den Doppelmord als Anschlag gegen die Demokratie. Keystone

Die Schweiz verfügt über die stärkste direkte Demokratie der Welt. Diese ist aber beileibe kein Alleinstellungsmerkmal des kleinen Landes. Mit Uruguay gibt es nämlich ein Vorzeigebeispiel aus Lateinamerika. Dunkel sieht es dagegen für Osteuropa aus. Bericht von einer internationalen Tagung in Deutschland.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Wenn es um die direkte Demokratie geht, sehen wir Schweizer uns gerne als Nabel der Welt. Tatsächlich gibt es kein anderes Land auf der Welt, das eine vergleichbar grosse Vielfalt an Mitwirkungsmöglichkeiten auf den verschiedenen Staatsebenen bietet und in dem die Volksrechte derart rege genutzt werden. Mit über 720 Abstimmungen allein auf nationaler Ebene ist die Schweiz in der Welt einsame Spitze.

Doch dies ist kein Grund, auf Selbstbeweihräucherung zu machen. Denn abgestimmt wird auch anderswo. Dass dies aber aus ganz unterschiedlichen Gründen geschieht, das wurde an der internationalen Fachtagung mit dem Titel «Political culture and active citizenship» («Politische Kultur und aktive Bürgerschaft»)Externer Link vom 9. bis 11. März in Wuppertal deutlich. Gut 30 Spezialisten debattierten zur Frage, wie und wie gut funktioniert direkte Demokratie in unterschiedlichen Ländern dieser Welt?

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Enttäuschte Hoffnung Osteuropa

Osteuropa galt in Sachen Demokratisierung lange Zeit als grosse Hoffnung. Doch die ehemaligen Ostblockstaaten tun sich schwer mit ihrer Transition hin zu stabilen Demokratien. Dies illustrierten Zoltán Tibor Pállinger und Peter Spàc. Die Gründe, welche der ungarische und der slowakische Demokratieexperte anführten, sind vielseitig.

Klar ist aber: Für ein tieferes Verständnis von der Situation in den ehemaligen Ostblockstaaten muss man sich von der naiven Vorstellung verabschieden, die Sehnsucht nach mehr Demokratie sei eine international gültige Gesetzmässigkeit.

Makulatur

Auch die direktdemokratische Kultur ist dort eine ganz andere. Zoltán Tibor Pállinger, Professor für Politikwissenschaft an der Andrássy Universität Budapest, sieht einen wesentlichen Grund in der Absenz einer aktiven und kritischen Zivilgesellschaft. 

Die Regierung Orban bremse Bürgerinitiativen gezielt durch einen übertriebenen Formalismus aus. So könne ein unliebsamer Vorstoss bereits an einer falschen Kommasetzung scheitern.

Der starke Mann, der die Massen mobilisiert

Davon abgesehen sind auch die Hürden für Volksvorstösse im Vergleich zur Schweiz sehr hoch. Pállingers Fazit: Die direkte Demokratie in Ungarn habe inzwischen primär eine Mobilisierungsfunktion und sei von den Parteien «kolonialisiert» worden.

Der ungarische Demokratieexperte Zoltán Tibor Pállinger.
Zoltán Tibor Pállinger. Andrássy Universität Budapest

Ein ganz ähnliches Bild zeichnete Peter Spàc, auch er Professor für Politikwissenschaften, für die Slowakei. Jenes Land also, das sich nach der Ermordung eines Investigativ-Journalisten und dessen Partnerin aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet. Niemand glaube dort ernsthaft an die Veränderungskraft von Volksentscheiden, sagte Spàc.

Entweder versandeten solche bereits in der Phase der Unterschriftensammlung oder würden an der Urne an einem hoch angesetzten Quorum scheitern. Von acht Initiativen erreichte laut Spàc nur gerade eine die geforderte Mindestbeteiligung. Oder der Worst Case: Sie Initiativen werden schlicht nicht umgesetzt. 

Referenden seien nicht das Ziel, sondern Mittel zum Zweck zur Durchsetzung eigener Interessen, lautete das Fazit des slowakischen Experten.

Uruguay – die Schweiz Lateinamerikas

Hoffnungsvoller stimmt die Situation in Lateinamerika. Besonders der Fall Uruguay. Es ist nicht bloss das lateinamerikanische Land mit den meisten Volksabstimmungen, sondern es zeichnet sich auch durch eine ausgesprochen lebendige Parteikultur aus – zwei Elemente, die auf einzigartige Weise miteinander verwoben seien, so Rafael Piñeiro, auch er ein Politikprofessor.

Volksinitiativen würden in Uruguay sehr oft von einfachen Parteimitgliedern angeregt. Und bisweilen sogar in einem parteiinternen Aushandlungsprozess gegen den Willen der eigenen Parteielite durchgesetzt, sagte Piñeiro in einem Interview, das swissinfo am Rande der Tagung mit ihm führte.

«Politische Stimmungsmache durch direkte Demokratie gibt es in Uruguay nicht, denn die hoch demokratisierten Parteien lassen es gar nicht so weit kommen.» Rafael Piñeiro

Politische Stimmungsmache durch direkte Demokratie gebe es im politischen Systems Uruguays nicht, denn die hoch demokratisierten Parteien würden es gar nicht so weit kommen lassen. Das war eine der guten Nachrichten in Wuppertal.

Bunt wie die Welt selbst

Zusammenfassend lässt sich nach dem dreitägigen Austausch festhalten, dass die Bedeutung und Entwicklung der direkten Demokratie von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Dies auch, weil sie in ganz spezifische kulturelle und politische Kontexte eingebunden sind.

Konkret: In manchen Ländern ist die direkte Demokratie ein Vehikel für Oppositionspolitik, anderswo der verlängerte Arm der Regierung, dann wieder die Institution einer kritischen und aktiven Bürgerschaft, oder, was auch vorkommt, sie spielt überhaupt keine Rolle. 

Ein generalisierender Abriss der globalen Entwicklung der direkten Demokratie gehört darum eher in die Schublade mit dem Etikett «Unmöglich».

Zahlreiche Voraussetzungen

Klar ist hingegen eines, und darin stimmten die in Wuppertal versammelten Forscher überein: Es müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein, wenn eine direkte Demokratie gut funktionieren soll. 

Unabdingbar sind insbesondere: starke Institutionen, die Rechtsstaatlichkeit und legale Verbindlichkeit garantieren; eine aktive Zivilgesellschaft mit dem Willen zu Veränderungen und Gestaltung; möglichst wenig Hürden in Form von Quoren sowie ein gesundes Vertrauensverhältnis zwischen den Repräsentanten und Repräsentierten. Ansonsten bleibt direkte Demokratie nicht mehr als ein leeres Versprechen.

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