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Der Marathon Man der Demokratie-Erneuerung in der Schweiz

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Demokratie-Festival/Stefan Bohrer

Der Mann hat einen Plan: Mit der Plattform wecollect hat Daniel Graf die analoge direkte Demokratie Schweiz einen grossen Schritt Richtung Digital Age geschoben. Nach der kürzlichen, erfolgreichen Premiere des von ihm initiierten Demokratie Festivals blickt er schon in die Zukunft. Zur ihr gehört auch eine "Demokratie-Initiative".

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

#DearDemocracy sprach mit dem Antreiber der Demokratie Schweiz kurz nach der Premiere von Beta, dem ersten Demokratie Festival der Schweiz, das der 46-jährige Zürcher ins Leben rief.

Daniel Graf
Daniel Graf zvg

swissinfo.ch: Die erste Ausgabe von Beta ging vor wenigen Tagen in Basel über die Bühne. Wie lautet Ihre Bilanz?

Daniel Graf: Das Festival war seit Monaten ausgebucht und platzte am Tag selbst aus allen Nähten. Mich faszinierte, dass die unterschiedlichsten Menschen kamen, ganz Junge, aber auch Ältere. Sie alle aber sind sehr engagiert und politik-interessiert.

Am Festival blickten wir alle in die Zukunft der Demokratie Schweiz, es ging um neue Initiativen, Kampagnen und Plattformen, die wir demnächst aufschalten.

swissinfo.ch: In Skandinavien sind Demokratie Festivals Teil des Festival-Sommers. Wieso dauerte es 171 Jahre, bis die Demokratie Schweiz ihr erstes Demokratie Festival erlebte?

D.G.: In der Schweiz geht alles etwas länger, wie etwa die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 zeigt. In der Schweiz hat man das Gefühl, dass Demokratie mit der Muttermilch aufgesogen wird. Dem ist aber nicht so. Denn es fehlt das Bewusstsein, dass Demokratie eine gelebte Praxis ist, die man erlernen kann und die lebendig und spannend sein kann.

Ich glaube, dass es einen Wechsel braucht, wie wir Demokratie verstehen. Es war die Grundidee des Festivals, Demokratie und die Art, wie wir sie entwickeln wollen, in einem neuen Licht zu zeigen.

Daniel Graf, Demokratiearbeiter

Der 46-jährige Zürcher hat Geschichte, Volkswirtschaft und Soziologie studiert. Als Berater unterstützt er NGOs, Parteien und Verbände bei Kampagnen. Zuvor war er Mediensprecher bei Amnesty International und Geschäftsführer der Grünen Partei Zürich. Er war Mitbegründer der Online-Plattform wecollect und des Think&Do-Tanks PublicBeta. 

Im Sommer hat Graf wecollect in die neue Stiftung für direkte Demokratie überführt, die er ebenfalls mitbegründet hat. 

Graf ist auch Initiant von Beta, dem ersten Demokratie Festival in der Schweiz. Daran nahmen 13. September 2019 in Basel rund 350 Demokratie-Interessierte aus Zivilgesellschaft, Bildung und Wissenschaft, Politik und Medien teil.

2018 erschien das Buch «Agenda für eine Digitale Demokratie», das Graf zusammen mit Maximilian Stern schrieb.

swissinfo.ch: Was sind die Ziele für das Demokratie Festival?

D.G.: Das Festival war seit Jahren ein Traum von mir. Es soll alle Leute mit Ideen und Vorschlägen zusammenbringen, um die Demokratie der Zukunft zu diskutieren. 

Es soll auch zeigen, wie wir arbeiten, nämlich mit Prototypen. Daher auch der Name Beta. Wir planten nicht das perfekte Festival, sondern wollten mit einer Lernkurve einsteigen, um den Anlass weiterzuentwickeln und in den nächsten Jahren grösser zu machen.

Mit der Gründung der Stiftung für direkte Demokratie machten wir auch einen Schritt vorwärts. Sie baut auf der Plattform wecollect auf, die ich im August der Stiftung überschrieben habe.

swissinfo.ch: Sie sprachen von neuen Initiativen, Kampagnen und Plattformen, die vom Festival ausgehen. Was kommt da auf die direkte Demokratie in der Schweiz zu?

D.G.: Ein Thema in Basel war die eID, die digitale Identität für die Bürgerinnen und Bürger. Wir fordern seit Jahren, dass die Öffentlichkeit darüber debattiert, ob tatsächlich private Unternehmen eine solche eID ausgeben sollen, wie dies Regierung und Parlament wollen. 

Ich halte den Systemwechsel zu Privaten für einen Fehler und ein Risiko für unsere Demokratie, wenn Unternehmen diese Aufgabe übernehmen. Wir wissen aus einer Umfrage, dass 87% eine eID vom Staat möchten. Deshalb haben wir gestern Montag das Referendum gegen das Gesetz ergriffen.

swissinfo.ch: Ihr Markenzeichen ist die grosse Energie, mit der Sie immer neue Projekte für die Entwicklung der Demokratie in der Schweiz aushecken und auf den Schlitten bringen. Woher nehmen Sie diese Kräfte?

D.G.: Die nächsten Jahre, die vor uns liegen, bergen ein riesiges Potenzial. Jede und jeder kann diese Zeit mit der eigenen Stimme prägen. Wer bemerkt, was so möglich ist, spürt sehr viel Energie und Lust, Dinge anzupacken. 

Die Digitalisierung ist eine historische Veränderung unserer Gesellschaft. Sie birgt neben Risiken wie Fake News auch sehr grosse Chancen. Aber diese werden uns nicht auf dem Silbertablett serviert, man muss sie vielmehr packen. Damit verbunden ist aber auch sehr viel Überzeugungsarbeit.

«Ich habe ein Gespür dafür, wie Zukunft aussehen könnte, wenn ich sie selber in die Hand nehme.»

Es gibt Menschen, die haben eher einen Sinn für die Wirklichkeit – die Realisten. Andere sehen eher die Möglichkeiten – die Visionäre. Ich bin irgendwie dazwischen und habe ein Gespür dafür, wie Zukunft aussehen könnte, wenn ich sie selber in die Hand nehme. Mit der Digitalisierung hat sich der Horizont des Möglichen total verändert. Diese Technologie hilft, das Versprechen der Demokratie einzulösen, dass wir Bürgerinnen und Bürger sie mitgestalten.

swissinfo.ch: Sie haben 2016 mit Ihrer Plattform wecollect die Richtung gewiesen: die digitale direkte Demokratie in der Schweiz. Was bringt mir diese als Bürger? Wie bringt sie die Demokratie Schweiz voran?

D.G.: Der Bevölkerung bringt sie einen viel grösseren Hebel. Sie können die Demokratie weit über die bestehenden Instrumente hinaus gestalten. Wir sind wichtiger geworden, weil wir Bürgerinnen und Bürger uns als Schwarm organisieren können, der oft viel agiler und effizienter ist als bestehende Organisationen wie Parteien, Verbände oder Gewerkschaften. 

Spiritus Rector Daniel Graf bei seiner Schlussrede in Basel
Der Spiritus Rector Daniel Graf bei seiner Schlussrede am Beta-Festival in Basel. Demokratie-Festival/Stefan Bohrer

Stichwort effizienter: Analoge direkte Demokratie ist teuer, weil sie gedruckte Abstimmungs- und Wahlunterlagen sowie Informationsbroschüren benötigt. Die Digitalisierung kann helfen, Kosten zu sparen.

swissinfo.ch: Sind die Reaktionen der traditionellen politischen Akteure auf die agile Schwarm-Demokratie immer noch negativ wie beim Start? 

D.G.: Viele traditionelle Organisationen haben Mühe, die Schwarm-Demokratie in ihren Strukturen zuzulassen und so ihrer Basis mehr Mitsprache zu ermöglichen. Sie erkennen oft erst in einem zweiten Schritt, was sie mit mehr Partizipation gewinnen, und dann machen auch sie mit.

Viele der bestehenden Organisationen wie Parteien und Verbände sind die besten Freunde, wenn es darum geht, Projekte erfolgreich über die Bühne zu bringen. Eine Abstimmung kann man nur mit vereinten Kräften gewinnen. Da stehen nicht Schwarm-Demokratie gegen Offline-Demokratie, es geht vielmehr um das Schmieden von Bündnissen.

swissinfo.ch: Sie kämpfen gegen einen Riesen, den Bund. Er hat Ihren Plan, dass Bürger Volksinitiativen und Referenden auf dem Smartphone unterschreiben können, eine klare Abfuhr erteilt. Was brächte ein solches E-Collecting?

D.G.: Der Bund hat dies – wie im Sommer auch E-Voting – auf Eis gelegt. Hier sehe ich ein riesiges Demokratie-Problem, denn E-Collecting würde die Schweiz fundamental verändern. Es würde mehr Netzwerken und Interessengruppen ermöglichen, sich in die Politik einzuschalten. Ohne ein solches Tool haben wir nicht die Demokratie, die wir haben könnten.

swissinfo.ch: Bund und Kantone haben E-Voting diesen Sommer nach 20 Jahren Testen auf Eis gelegt. Wo sehen Sie die Gründe?

D.G.: Bund und Kantone haben aufs Tempo gedrückt, statt wie versprochen die Sicherheit über die Schnelligkeit zu stellen.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind nicht gegen die Weiterentwicklung des E-Votings, wenn es um Tests in den Kantonen und für die Auslandschweizer gibt. Die Frage ist aber, ob wir technisch schon so weit sind, es einzuführen.

Hier warnen Expertinnen und Experten seit fünf und mehr Jahren, dass die Sicherheit nicht gewährleistet ist. Die Behörden haben erst kurz vor der Einführung gemerkt, dass die Zeit noch nicht reif ist, um in einem solch sensiblen Bereich den grossen technologischen Schritt zu machen.

swissinfo.ch: In Basel war auch Stimmrechtsalter 16 ein Thema. Dazu dachten Ihre Ko-Veranstalter bereits laut über eine Volksinitiative nach. Kann wecollect das wirklich stemmen?

D.G.: Wir machen Initiativen und Referenden nur in Zusammenarbeit mit engagierten Menschen. Nicht wir sammeln die Unterschriften, sondern Zehn- oder Zwanzigtausend engagierte Bürgerinnen und Bürger, die uns ihre Mithilfe zusichern. Sie stellen auch die Finanzierung dieser Projekte sicher. Diese sind nur finanzierbar, wenn auch die Beteiligung stimmt.

Erst diese Arbeitsteilung ermöglicht diese Energie und Dynamik. Zudem gibt uns das auch eine grosse Sicherheit. Aber wir packen nur Projekte an, die wir von langer Hand planen. Mit dem Konzept der Schwarm-Demokratie können wir selber relativ klein bleiben. Das macht uns eher zu Demokratie-Inkubatoren, die einen direktdemokratischen Prozess auf die Startrampe schieben als zu einem klassischen Akteur.

Publikum etwas alt
Gemischtes Publikum in Basel. Demokratie-Festival/Stefan Bohrer

Wir wollen primär auch vermitteln, dass jeder und jede eine Initiative oder ein Referendum starten kann. Dazu braucht es viel Engagement und Durchhaltewillen. Dass dies möglich ist, zeigen Beispiele wie die Initiative für sauberes Trinkwasser oder das Referendum gegen die Versicherungsdetektive. Sie sind zustande gekommen, obwohl sie von Einzelpersonen stammen. 

swissinfo.ch: Sie sehen sehr früh die Potenziale neuer Ideen und Technologien. Wohin wollen Sie die Schweiz bis in zehn Jahren bringen?

D.G.: In zehn Jahren können meine Kinder mitbestimmen, falls wir dann Stimmrechtsalter 16 haben. Ich arbeite darauf hin, dass sich für Jugendliche die Möglichkeiten vergrössern, Abstimmen und Wählen zu können. 

Noch mehr wünsche ich mir, dass die Lehrerin oder der Lehrer im Staatskunde-Unterricht nicht über Bundesräte, Institutionen oder Prozesse spricht. Vielmehr sollte sie die Schülerinnen und Schüler fragen, wie sie in die Schweiz konkret verändern möchten. 

Dann wird natürlich die Volksinitiative durchgespielt. So wird Politik direkt erfahrbar gemacht, und wenn das passiert, macht es Klick in den Köpfen. Dann wird Demokratie noch einmal stärker und schöner, als wir sie jetzt kennen.

swissinfo.ch: Wie sieht Ihre Traum-Initiative aus, die Sie sicher schon in Ihrem Kopf haben?

D.G.: In der Bundesverfassung steht, dass die Schweiz auf internationaler Ebene Demokratie und Menschenrechte stärken muss. Überraschenderweise aber fehlt darin ein Artikel, der die Schweiz verpflichtet, die Demokratie auch im Land selber zu stärken und weiterzuentwickeln. 

Das ist auch verantwortlich dafür, dass in unserem Selbstverständnis von Demokratie fehlt, dass deren Entwicklung und Verbesserung nicht einfach gegeben ist. 

Ich habe seit Jahren die Idee im Kopf, eine Demokratie-Initiative zu starten. Deren Ziel ist es, die Lücke zu schliessen und die Weiterentwicklung der Demokratie in der Verfassung zu verankern.

Aber dafür brauchen wir in der Schweiz eine neue Demokratie-Bewegung. Das Festival in Basel diente auch als Plattform, diese Bewegung jetzt aufzubauen.

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