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«Junge und Politik stecken in einer Beziehungskrise»

Hernani Marques
Reservoir an guten Ideen: "Liquid Democracy" oder flüssige Demokratie kann ein Mittel gegen die Beziehungskrise zwischen Jungen und der Politik in der Schweiz sein, sagt Digital-Spezialist Hernâni Marques. Flurin Bertschinger

Im Herbst sind Schweizer Parlamentswahlen, und von den Jungen dürfte nur noch etwa jeder und jede Vierte hingehen. Der neue easyvote-PolitikmonitorExterner Link bestätigt damit den Trend, dass die Politik in der Schweiz die unter 25-Jährigen immer weniger erreicht. Computer-Spezialist und Netzaktivist Hernâni Marques hat eine Idee, wie die Digitalisierung dem Demokratie-Nachwuchs wieder mehr Schwung verleihen könnte.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

Achtung, bitte festhalten: Knapp die Hälfte aller Jugendlichen in der Schweiz findet unter den etablierten Parteien keine, die ihre Interessen vertritt. Mehr als die Hälfte der 18- bis 25-Jährigen findet, dass die Entscheide des Parlaments für ihren Alltag nicht wichtig sind.

Aber eigentlich sollten die Politikerinnen und Politiker Vorbilder für die Jugend sein und diese zum Mitmachen motivieren. Gerade in einem Wahljahr wie 2019.

Doch die Realität ist eine andere: Die in der Politik vorherrschende Sprache und die bisweilen gehässige Tonalität löschen den Jungen ab.

Ende 2018 war die Gruppe jener, die im Oktober nicht wählen gehen wollen, gegenüber 2014 grösser geworden, wie die Grafik mit den Farben Orange/Gelb zeigt. Gleichzeitig schmolz der Anteil jener, die teilnehmen wollen (Farben Dunkel-/Hellblau).

Klima-Demonstrationen als Trendwende?

So tönt es also zurück, wenn das Forschungsinstitut gfs.bern im ganzen Land rund 1000 zu ihrem Verhältnis zum Thema Politik befragt. Geschehen ist dies im letzten Herbst.

Dabei würden sich viele Jugendliche an sich für Politik interessieren, wie die Befragung ebenfalls zeigt.

Darauf deuten auch die Klima-Demonstrationen hin, bei denen seit letztem Dezember Zehntausende von Jugendlichen in den Schweizer Städten auf die Strassen gegangen sind. Damit wollen sie den Politikerinnen und Politikern im Bundeshaus zu Bern in Sachen wirksamer CO2-Reduktion Beine machen.

Die Wirkung erfolgte auf dem Fuss: Aus den letzten kantonalen Wahlen gingen die Grünen als grosse Sieger hervor – sie stehen somit auf der Poleposition für die Schweizer Parlamentswahlen vom Oktober.

«Die Jungen und die Politik stecken in einer Beziehungskrise», eröffnete easyvote-Leiterin Zoë Maire die Jahrestagung. Wie aber die Jungen dazu bringen, im Herbst an die Wahlurnen zu gehen? Darüber diskutierten am Donnerstag in Bern junge und ältere Politikerinnen und Politiker und Experten.

Hernani Marques
Hat viele Ideen zur Verbesserung der Schweizer Demokratie, aber keinen Schweizer Pass: Computer-Spezialist Hernâni Marques. Flurin Bertschinger

Einer davon war der Zürcher Computer-Spezialist Hernâni Marques. Der Vorschlag des Multitalents – Marques ist Computerlinguist, Soziologe, Neuroinformatiker und Vorstandsmitglied des Chaos Computer Club SchweizExterner Link: «Liquid Democracy». Marques hat an der Universität Zürich eine StudieExterner Link darüber gemacht. Wie die Jungen in der Schweiz mit «flüssiger Demokratie» ihre Lust an der Politik wiederentdecken sollen, sagt er im Interview.

swissinfo.ch: Wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, dass sich junge Menschen wieder mehr für Politik interessieren?

Hernâni Marques: Die Schweiz kennt das basisdemokratische Ideal der Selbstvertretung, etwa in den Vereinen oder auch im Rahmen von Landsgemeinden. Dort ist niemand darauf angewiesen, dass jemand für dich entscheidet. Die Digitalisierung bietet tatsächlich die Möglichkeit, diese Selbstvertretung erstmals in der Geschichte der Schweizer Demokratie grossflächig zu ermöglichen, orts- und zeitunabhängig. 

Eine digitale Plattform wäre ein Instrument, mit dem alle Bürgerinnen und Bürger ihre guten Ideen zur Verbesserung der Schweiz einbringen könnten. Von dort könnte man sie dann in einen offiziellen Kanal bringen, wo die effektive Entscheidung fällt.

«Alle haben gute Ideen, auch solche ohne Stimmrecht, zu denen als Portugiese auch ich zähle.» Hernâni Marques

Alle haben gute Ideen, auch solche ohne Stimmrecht, zu denen als Portugiese auch ich zähle. Die Plattform würde zum Beispiel von der Bundeskanzlei zur Verfügung gestellt oder vom Parlament.

swissinfo.ch: Es gibt ja bereits die klassische Petition eine Bittschrift, die nicht ein Volksrecht ist, sondern ein Grundrecht.

H.M.: Ja, aber dabei handelt es sich um einen fixen Vorschlag. In der digitalen Version hingegen liesse sich dieser noch völlig transparent verändern, sprich verbessern. Das ist das Liquide am Modell der «Liquid Democracy». Es wären auch eine Auswahl von Vorschlägen möglich, von denen einer gewinnt.

swissinfo.ch: Und wie soll das konkret funktionieren?

H.M.: Im März haben in Zürich junge Menschen für ein freies Internet und gegen einen strengeren Urheberschutz demonstriert, über den das Parlament momentan berät.

An vorderster Front mit dabei waren auch YoutuberExterner Link. Sie haben gemerkt, dass die Politik im Begriff ist, etwas – fürs Internet – Schädliches zu tun. Auf einer digitalen Plattform könnten sie sagen, dass sie die damit verbundenen Einschränkungen nicht wollen, und sie hätten die Möglichkeit, Unterstützung von vielen anderen zu erhalten. Der so entstandene Druck könnte dann das Parlament dazu bringen, die Vorlage abzuändern.

swissinfo.ch: Können Sie noch genauer erklären, was dann auf dieser Plattform geschieht?

H.M.: Andere kommentieren den Vorschlag, indem sie sagen, was sie daran gut finden oder was sie anders machen würden. Politiker hätten dabei vorerst dasselbe Gewicht wie alle anderen. 

Das Konzept der «Liquid Democracy», wie es die Piratenpartei schon erprobt, sieht dann eine Gewichtung vor: Einzelne, die mit ihrem Wirken viel Vertrauen geniessen, sollen mehr Gewicht auf sich vereinen können. Ist ein Schwellenwert an Gewicht für ein Sachthema erreicht, muss ein Vorschlag von einer parlamentarischen Kommission beraten werden.

swissinfo.ch: Gibt es schon so etwas?

H.M.: In Deutschland gab es die Enquete-Kommission Internet und digitale GesellschaftExterner Link, die als «18. Sachverständiger» eine Liquid-Democracy-Plattform hatte. Die Kommission beriet das Parlament in der komplexen Frage, wie die Digitalisierung Deutschland voranbringen könnte. 

Netzaktivistinnen und -aktivisten wurden auf der Plattform eingeladen, ihre Sicht einzubringen. Daraus resultierten sehr konkrete Anträge an den deutschen Bundestag.  

«Das aktuelle System erlaubt es Bürgern nicht, selber auf transparente und niederschwellige Weise Vorschläge einzubringen.» Hernâni Marques

swissinfo.ch: Und hat es funktioniert?

H.M.: Man hat es so geschafft, mehrere Tausend Menschen zum Mitmachen zu aktivieren. Auf die Schweiz bezogen könnte ein solches Modell bedeuten: Menschen werden motiviert, abstimmen und wählen zu gehen, weil sie merken, dass ihre Anliegen ernst genommen werden und sie sich überhaupt erst mit Themen beschäftigen, bei denen sie merken, dass es wichtig ist, Politiker mit ähnlichen Ideen zu wählen.

Das aktuelle System erlaubt es Bürgern nicht, selber auf transparente und niederschwellige Weise Vorschläge einzubringen. Ausser sie sind gewählte Politiker oder sie setzen ihre Karte auf andere gewählte Politiker. 

Letzteres erfordert aber soziales Kapital – also Zugang zu diesen Politikern. Dies aber haben Jugendliche in aller Regel noch nicht. Auch wollen nicht alle in Parteien mitmachen. Dies schliesst nicht aus, dass man sachpolitisch – eben zum Beispiel netzpolitisch, wie ich – Ideen hat, wie die Schweiz verbessert werden kann.

swissinfo.ch: Würde diese Plattform nicht das Parlament unter zusätzlichen Druck bringen?

H.M.: Nein, es wäre immer noch Hoheit des Parlaments, Entscheide über die Gesetze zu fällen. Falls man nicht einverstanden ist, gibt es nach wie vor die Volksinitiative und das Referendum.

Ebenfalls an der easyvote-Tagung hat swissinfo.ch-Videojournalistin und Nouvo-Autorin Céline Stegmüller zwei junge Politikerinnen porträtiert. Die Interviews sind auf Deutsch:


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