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Die Schweiz – Entwicklungsland in digitaler Demokratie

"Crypto Valley": Der Kanton Zug ist ein Mekka der Verschlüsselungstechnologie. Was aber digitale direkte Demokratie betrifft, ist die Schweiz arg im Hintertreffen. Reuters

Weltweit probieren Bürgerinitiativen und Startups neue politische Partizipationsformen im Internet aus. Und was macht die Schweiz? Sie verschläft diesen Trend. Obwohl sie als "Weltmeisterin der direkten Demokratie" – kein anderes Land hat mehr nationale Abstimmungen – dafür prädestiniert wäre. Was sind die Gründe für diesen Widerspruch?

In Deutschland und Portugal bestimmen Bürger digital über den Haushalt ihrer Kommunen mit. In Australien und in Argentinien können die Wähler vielleicht bald direkt über die parlamentarischen Geschäfte abstimmen. In Estland erhält man eine Art virtuelle Staatsbürgerschaft, die es erlaubt, Unternehmen zu gründen.

Und was passiert in der Schweiz in Sachen digitaler Demokratie? Praktisch nichts.

«Digitale direkte Demokratie»

Fake News aus Troll-Fabriken, Social-Media-Filterblasen, Bots, reale Weltpolitik via Twitter: die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung steht heute praktisch überall weit oben auf der politischen Agenda.

In einer Serie beleuchtet #DearDemocracy-Autorin Adrienne Fichter Einfluss und Auswirkungen der digitalen Technologie auf das System und die Abläufe in der direkten Demokratie Schweiz.

Konkret legt Fichter den Fokus auf den Einfluss von Social Media auf Wahlen und Abstimmungen, digitale Bürgerbeteiligung, E-Government, Civic Tech und Open Data.

Seit der interaktiven Wahlhilfe des Forschungsprojekts smartvote.chExterner Link und den Abstimmungs-Visualisierungen zum National- und Ständerat der Plattform politnetz.chExterner Link hat die Schweiz keine «echte» digitale Demokratie-Innovation mehr hervorgebracht. E-Voting wurde erst vor wenigen Tagen re-animiert (siehe Ende des Artikels).

Der digitalen Adaption der Volksrechte sind rechtliche Grenzen gesetzt. Tools wie wecollect.chExterner Link erleichtern zwar die Sammlung von Unterschriften für Volksinitiativen oder Referenden. Dennoch muss man die Vorlage für die Unterschrift immer noch stets ausdrucken, von Hand unterschreiben und danach per Post einschicken.

Länder mit repräsentativen Demokratien haben uns längst überholt. Dabei wären die Bedingungen der Schweiz als digitales Demokratielabor geradezu ideal: Mit ihrer fein austarierten direkten Demokratie, dem Zentrum für Demokratie in Aarau, den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich (ETH) und Lausanne (EPFL) sowie den zahlreichen Blockchain-Startups aus dem Zuger «Crypto ValleyExterner Link» verfügt sie über beste Voraussetzungen, um sich als «Hub» für sichere Demokratie-Innovationen ganz weit vorne zu positionieren.

Hinzu kommt die hohe Durchdringung der Digitalisierung: 85% der Bevölkerung nutzen das Internet regelmässig, dies ist einer der höchsten Werte im OECD-Vergleich. Warum also sind wir dennoch ein Entwicklungsland in Sachen digitaler direkter Demokratie?

Hemmender Föderalismus/»Kantönligeist»

Einer, der uns weiterhelfen kann, ist Hannes GassertExterner Link. Der Open-Data-Pionier der ersten Stunde und einer der wenigen Polit-Unternehmer der Schweiz. Mit seinem Netzwerk unterstützt Gassert auch das staatslaborExterner Link, ein neues Startup, das von Alenka Bonnard geleitet wird. Das staatslabor möchte mit agilen Methoden und dem Design-Thinking-Ansatz den Staat effizienter und digital fit machen.

Diese Form ist einzigartig in der Schweiz. Gassert und Bonnard agieren praktisch konkurrenzlos. Denn ein Markt für «Governance-Dienstleistungen» existiert nicht. Weil es keinen Fördertopf für die Unterstützung von öffentlich-privaten Partnerschaften der digitalen Demokratie gibt, müssen andere Geldgeber in die Lücke springen. Das staatslabor wird beispielsweise vom Förderfonds Engagement der Migros finanziell unterstützt, einem Riesen des Schweizer Detailhandels.

Hannes Gassert, Schweizer Pionier im Bereich Open Data und digitale Demokratie. twitter

Weshalb sich in der Schweiz Startups und öffentlicher Sektor gegenseitig meiden, kann sich auch Gassert nicht wirklich erklären. Das Ausbleiben eines innovativen helvetischen Demokratie-Clusters begründet er unter anderem mit dem so genannten Kantönligeist. Damit ist die sehr stark ausgeprägte Eigenständigkeit der Kantone innerhalb des föderalistischen Gefüges der Schweiz gemeint. Das kantonale Abstimmungs- und Wahlwesen ist eine heilige Kuh, die unantastbar ist. Es findet allgemein wenig Austausch unter den Kantonen statt, sonst wäre man beim Thema E-Voting wohl schon viel weiter, so Gassert.

Das föderale Trauerspiel zeigt sich auch beim Thema E-Government. Darunter ist der Einsatz von Technologien für die Verbesserung der öffentlichen Dienste und demokratischer Prozesse zu verstehen. Seit Jahren dümpelt die Schweiz bei internationalen Rankings im Mittelfeld, weil vor allem auf der nationalen Ebene eine Strategie fehlt.

So belegt die Schweiz etwa im UNO-Ranking 2016 zu E-GovernmentExterner Link lediglich Platz 29.

Reinhard Riedl, Professor an der Berner FachhochschuleExterner Link, erklärt sich dieses schlechte Abschneiden damit, dass man sich hier gern mit dem Status Quo begnüge. Generell würden sich die Behörden und Politiker um eine staatsphilosophische Auseinandersetzung zum Thema digitale Demokratie und E-Government foutieren. Es zählten allein die Zahlen.

Innovationen im öffentlichen Sektor werden nach wie vor sehr betriebswirtschaftlich angegangen. Rechnet es sich oder nicht? Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache: Die Nutzung des E-Government-Angebots «ERechnung» für Unternehmen würde ein Einsparpotenzial von jährlich ca. 225 Mio. Franken ergeben, rechnet Anna Faoro von der Fachstelle E-Government SchweizExterner Link vor.

E-Government = Informatik für die Verwaltung

Doch trotz der eindeutigen Zahlen stockt die Debatte über bürgerfreundliche Innovationen im Netz. Dies hat auch kulturelle Gründe. Partizipation scheint für eine hierarchisch organisierte Institution wie die Bundesverwaltung immer noch eine Horrorvorstellung zu sein.

Ein Insider aus der Bundesverwaltung, der auch im Bereich E-Government arbeitet, formuliert es so: «Im Prinzip heisst Informatik heute E-Government. Es geht um viel Geld für alle möglichen Beratungs- und Informatikfirmen. Aber es geht fast nie um Organisationsentwicklung oder gar Partizipation, sondern um IT. Darum sind wir nach zehn Jahren E-Government immer noch sehr weit von den Zielen entfernt.»

Ein Blick auf die Webseiten sämtlicher Fachverbände bestätigt diese einseitige Auslegung: E-Government wird in der Schweiz mit elektronischen Behördendienstleistungen gleichgesetzt. Von der politischen Einbindung von Bürgern keine Spur.

Interessanterweise führt die Forschung gerade das direktdemokratische System als Bremsklotz für digitale Experimente an. Eine Studie der Publizistikwissenschaftler Ulrike Klinger, Stephan Rösli und Otfried Jarren der Universität Zürich über partizipative Online-Kommunikation in Schweizer StädtenExterner Link von 2015 zeigt, dass es Verwaltungen schwer fällt, einen Nutzen bei digitalen Beteiligungsprojekten zu sehen. Der Grund: Die politischen Bürgerrechte in der Schweiz seien ausgeprägt genug. Die Behörden wüssten nicht, wie man das Feedback von Bürgern im Netz in die schon sehr institutionellen Prozesse formell noch integrieren solle.

Digitale Vernehmlassung als Lichtblick

Doch es tut sich auch etwas in der digitalen Zivilgesellschaft. Der Polit-Unternehmer Hannes Gassert und seine Agentur LiipExterner Link knöpfen sich eine der zentralen Institutionen des Schweizer Systems vor: Die Vernehmlassung. Das ist eine breite Anhörung aller involvierter Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Genauer: Es ist die erste Phase des Gesetzgebungsprozesses in der Schweiz, bei der explizit alle betroffenen Interessengruppen zu Wort kommen. So wird Kritik am neuen Gesetzvorhaben frühzeitig fassbar und sie kann in dessen Ausarbeitung einfliessen.

«Vernehmlassung ist die Geheimwaffe der Schweiz, damit sie funktioniert, wie sie funktioniert», sagt Gassert. Seine Agentur arbeitet mit dem US-Unternehmen «DOBT Department of Better Technology» zusammen. Dieses stellte die Software ScreendoorExterner Link, eine Plattform für digitale Dienste von Regierung, Behörden und Verwaltung, zur Verfügung. Gassert und sein Team haben die Plattform für ein Pilotprojekt adaptiert und an Schweizer Eigenheiten angepasst. Bei einer erfolgreichen Evaluation im Frühjahr 2017 wäre die Infrastruktur für eine «digitale Vernehmlassung” lanciert und für alle Gemeinden offen.

Andere Startups nehmen sich des «Minenfelds» E-Voting an. Das schweizerisch-estnische Unternehmen ProcivisExterner Link möchte mittels der Blockchain-Technologie nach dem Vorbild Estlands gar eine Schweizer Plattform für öffentliche Dienstleistungen bauen. Also eine Art iTunes oder Google Play für staatliche Apps.

Der CEO von Procivis, Daniel Gasteiger, kann der föderalen Kleinräumigkeit der Schweiz sogar Positives abgewinnen: «Sie hat sich in der Vergangenheit auch sehr bewährt. Die Schweiz wäre nicht ein Hort der Stabilität geworden, wenn es anders wäre.» Die autonomen Kantone machen die Schweiz auch zu einem einzigartigen Experimentierfeld. Es ist wie im Sport: Die beste kantonale digitale Lösung soll sich national durchsetzen.

Nachtrag: Die Schweizer Regierung will allen Stimmberechtigten im In- und Ausland bis zu den nächsten Parlamentswahlen 2019 E-Voting ermöglichen. Dies hat Bundeskanzler Walter Thurnherr am 5. April 2017 angekündigt. Allerdings bleibt der Entscheid über die Einführung der elektronischen Stimmabgabe den Kantonen überlassen. Und die Sammlung von Unterschriften für Initiativen und Referenden im Internet ist von der Offensive ausgenommen.

Disclaimer: Die Autorin hat zweieinhalb Jahre das Startup politnetz.ch mitaufgebaut und dort als Social-Media- und Community-Managerin gearbeitet. 


Frage an die Leser: Würden Sie online abstimmen und wählen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten? Schreiben Sie uns in den Kommentaren!



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