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Kein Schweizer Pass für Tierschützerin

Einbürgerungen an Gemeindeversammlungen sind umstritten. Keystone

Die Bürgerinnen und Bürger einer aargauischen Gemeinde haben einer Holländerin zwei Mal die Einbürgerung verweigert, weil sich die vegan ernährende Tierschützerin mit Protesten gegen Kuh- und Kirchenglocken, Zirkustiere und Rennpferde unbeliebt gemacht hat. Ist die direkte Demokratie das richtige Instrument für Einbürgerungen?

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Ein bisschen Holländerin ist Nancy Holten geblieben: Trotz Minustemperaturen und zentimeterhohem Schnee fährt sie für das Treffen mit swissinfo.ch mit dem eleganten Damenfahrrad von Gipf-Oberfrick in die Nachbargemeinde Frick zu ihrem Lieblingscafé.

Ansonsten ist sie von einer Schweizerin nicht zu unterscheiden: Mit 8 Jahren zog sie mit der Mutter aus Rotterdam in den Kanton Zürich, sie spricht perfekt Schweizerdeutsch, hat drei Töchter mit Schweizer Pass und tritt als ModelExterner Link in Werbespots von Migros, der Schweizer Post, Rivella und anderen typisch schweizerischen Firmen auf.

Mehr noch: Nancy Holten hat eine blütenweisse Weste. Sie lebt nicht von der Sozialhilfe, hat keine Betreibungen und ist nicht vorbestraft. Eine ideale Kandidatin für den Schweizer Pass, könnte man meinen.

Doch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Gipf-Oberfrick sehen das anders: Gleich zwei Mal wurde Nancy Holtens Gesuch um die Schweizer Staatsbürgerschaft an der Gemeindeversammlung abgelehnt. Und zwar mit überwältigender Mehrheit von 144 zu 48 respektive 203 zu 59 Stimmen.

Die Holländerin Nancy Holten wurde von der Gemeindeversammlung nicht eingebürgert. swissinfo.ch

Demütigung an der Gemeindeversammlung

Eine Einbürgerung an der Gemeindeversammlung ist keine schöne Sache: Der Antragsteller muss es über sich ergehen lassen, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in seiner Anwesenheit über seine Person diskutieren und Argumente für oder gegen seine Einbürgerung darlegen, bevor abgestimmt wird.

In Nancy Holten’s Fall eskalierte die Situation: Wer etwas Positives über Holten sagen wollte, wurde bei der ersten Versammlung ausgebuht. Und als das Ergebnis an der zweiten Versammlung verkündet wurde, applaudierten die Bürgerinnen und Bürger über Holtens Niederlage.

Das Ganze erinnert ein wenig an einen Hexenprozess. «Das war schon hart», sagt Nancy Holten rückblickend und nimmt einen Schluck von ihrem Grander Wasser. «Ich kam mir vor wie eine Verbrecherin.» Am meisten wehgetan hätten ihr Äusserungen, sie solle doch zurück nach Holland ziehen. «Wohin zurück nach Holland?», ruft Holten. «Ich habe mit Holland nichts mehr am Hut. Ich bin doch hier in der Schweiz zu Hause.» Sie habe sich richtiggehend verstossen gefühlt.

Heftiger Widerstand gegen Einbürgerung

Einige Bürger und Bürgerinnen gründeten sogar eine Facebook-Gruppe namens «Nancy out! – Den Schweizern zuliebe». Die Site bekam Tausende Likes, bevor rechtliche Schritte von Holten zur Schliessung der Gruppe führten. Nach anonymen Anrufen, bei denen die Anrufer Glocken in den Hörer bimmeln liessen, veranlasste Holten die Streichung ihres Namens aus dem Telefonbuch.

Doch warum diese heftigen Reaktionen? Dass muslimische Frauen mit Kopftüchern es bei der Einbürgerung durch das Volk schwer haben, ist bekannt. Doch warum wollen die Bürgerinnen und Bürger von Gipf-Oberfrick eine holländische Veganerin nicht zur Schweizerin machen?

Das 3500-Seelen-Dorf liegt in einem ländlichen Gebiet im Kanton Aargau. Die Menschen hängen an Traditionen wie dem Geläut der Kirchenglocken, das Bimmeln der Kuhglocken, den Pferderennen und dem Sonntagsbraten. Holten wurde vorgeworfen, sie sei nicht integriert, weil sie diese Traditionen abschaffen wolle. «Ich war etwas naiv, weil ich nie darüber nachgedacht habe und mich einfach für Tierschutz einsetzen wollte», erklärt Holten. «Ich habe nicht realisiert, dass diese Dinge für viele Menschen Traditionen darstellen. Mittlerweile kann ich das aber verstehen.»

Was der attraktiven und fotogenen Holten aber vor allem übel genommen wird: Die zahlreichen Medienberichte über ihren Fall haben die Gemeinde Gipf-Oberfrick bis ins Ausland in Verruf gebracht. «Die Medienpräsenz hat die Leute genervt», bestätigt Holten.

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«Direkte Demokratie braucht kontrollierte Form»

Und wie geht es nun weiter? Nancy Holten hat wie schon beim ersten Mal gegen den Entscheid der Gemeindeversammlung rekurriert. Schon beim ersten Rekurs stellte der Regierungsrat (Kantonsregierung) fest, dass Nancy Holten alle Voraussetzungen zur Einbürgerung erfüllt. Statt von seiner Kompetenz Gebrauch zu machen und Nancy Holten direkt einzubürgern, wies er aber die Sache zur erneuten Entscheidung an die Gemeinde zurück – mit dem bekannten Ausgang.

Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die Kantonsregierung der leidigen Sache ein Ende machen will und Nancy Holten dieses Mal direkt einbürgern wird. Holten rechnet mit einem Entscheid in den nächsten Monaten. Falls sie vom Regierungsrat direkt eingebürgert wird, möchte Holten gerne Politikerin werden.

Wenn sie dereinst als Schweizer Bürgerin selbst an der Gemeindeversammlung über Einbürgerungen entscheiden könnte, würde Holten versuchen, möglichst neutral zu entscheiden und nicht aus Emotionen oder Sympathien.

Dass Einbürgerungen in der Schweiz mancherorts von der Gemeindeversammlung vorgenommen werden, findet Holten eine «Katastrophe». Dort solle die Demokratie aufhören, findet sie. «Ich bin nicht gegen die direkte Demokratie, aber es braucht eine kontrollierte Form.»

Was denken Sie über Einbürgerungen an der Gemeindeversammlung? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!

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Einbürgerung an der Gemeindeversammlung

In der Schweiz wird auf kommunaler Ebene über die Einbürgerung entschieden. Das Verfahren ist dabei sehr unterschiedlich. Einige Gemeinden lassen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Gemeindeversammlung abstimmen. In anderen Gemeinden entscheiden die Behörden oder Parlamente nach schriftlichen oder mündlichen Einbürgerungstests.

Gemäss einer StudieExterner Link sind die Chancen auf Einbürgerung grösser, wenn eine Behörde entscheidet und nicht die Stimmbürger. Laut BundesgerichtExterner Link müssen Einbürgerungsentscheide begründet werden und es braucht eine Rekursmöglichkeit – auch bei Volksentscheiden. Die Abstimmung an der Urne hat das Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt, weil es im Unterschied zur Gemeindeversammlung keine Diskussion und damit keine Begründung des Entscheids gibt.

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