Auf diese zehn Zutaten sollte keine moderne Gesellschaft verzichten
Was macht den Unterschied zwischen einer "guten" und einer "schlechten" Demokratie? Welche Aspekte sind besonders wichtig, wenn ein Land Wahlen oder eine Abstimmung durchführt? Zum Internationalen Tag der Demokratie vom 15. September hat unser Korrespondent für globale Demokratie eine Hitparade mit den Top-Ten-Kriterien für eine gute Demokratie erstellt.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Die Journalistin des russischen Staatsfernsehens blickte mich erwartungsvoll an: Eben hatte sie mich gefragt, was ich von den Wahlen Externer Linkhalte? Ich antwortete: «Das ist eine mit grossem Aufwand durchgeführte Show, die darüber hinwegtäuschen soll, dass im Vorfeld alle ernstzunehmenden Oppositionskandidaten vom Urnengang ausgeschlossen worden sind».
Die junge Reporterin zuckte leicht zusammen und versuchte es mit einer zweiten Frage: «Aber – was halten Sie von der digitalen Technologie, die zum Einsatz kommt?» und warf einen Blick auf eine gigantische Wand voller Flatscreens, Fernsehschirmen, hinter mir. Diese übermittelten in schneller Abfolge Live-Bilder aus den Zehntausenden von Wahllokalen in über zehn Zeitzonen.
«Ja, wirklich beeindruckend», erwiderte ich und sagte: «So können wir zweifelsfrei feststellen, dass sich nur wenige Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in die Wahllokale verirrt haben». Tatsächlich lag die Beteiligung am Ende des Tages bei unter 20%Externer Link.
Russland macht vor, dass es noch lange nicht damit getan ist, aufwändige und technologisch hochstehende Wahlen abzuhalten. Das gilt auch für Länder, die in den internationalen Demokratie-Rankings bedeutend besser abschneiden. Etwa in Taiwan, wo die gut 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger sehr umfassend an den Meinungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sind, es aber an genügend Zeit für die notwendigen öffentlichen Debatten fehlt.
Oder im Vielvölkerstaat Mexiko, wo zwar die bisherige korrupte Führungsriege von den Wählenden in die Wüste geschickt worden ist. Noch glaubt aber der neue Chef, Andrés Manuel López Obrador, «mehr Demokratie» könne von oben herab befohlen werden kann.
Die Demokratie-Hitparade
2007 hatte die UNO den 15. September zum Weltdemokratietag erklärt. Deshalb macht es Sinn, die zehn wichtigsten Zutaten aufzulisten, mit denen eine Demokratie gut funktionieren kann. Ich beginne beim Faktor Nummer zehn und mache dann einen Countdown zum Königs-Kriterium.
Die Digitalisierung hat alle Bereiche unseres Lebens erfasst. Nur die Demokratie tut sich noch schwer. Auch in der Schweiz, wo in diesem Herbst erstmals seit vielen Jahren die im Ausland lebenden Wählerinnen und Wähler nicht mehr einen elektronischen Kanal zur Stimmabgabe haben werden. Hingegen macht das kleine Estland vor, dass es doch geht. Zutat Nummer 10: Digitale Demokratie ja, aber dann gleich richtig.
Stellen Sie sich einen 400-Meter Hürdenlauf bei einer Leichtathletik-WM vor, bei dem es kaum ein Teilnehmer ins Ziel schafft. Aus dem einfachen Grund, dass die Latten der Hindernisse zu hoch angesetzt worden sind. So ergeht es vielen an der Politik interessierten Menschen. Zum Beispiel in Italien, wo bei einem durch eine Volksinitiative ausgelösten Urnengang ein Beteiligungquorum von 50% verlangt wird. Zutat Nummer neun: Hürden braucht es, jedoch als Ansporn, nicht zur Abschreckung.
Jedes gewählte Parlament der Welt verfügt über eine Infrastruktur: Büros, Mitarbeitende, Dokumentationen. In einer modernen Demokratie, die sich nicht aufs einmalige Weggeben der Stimme in einer Wahl einmal alle vier Jahre beschränkt, sondern auch Mitbestimmung kennt, braucht es eine solche Infrastruktur für alle: Dazu gehören politische Bildung, freie Medien und zugängliche Bürgerhäuser wie etwa in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Zutat Nummer acht: Investitionen in die Infrastruktur der Demokratie.
Die Qualität einer nachhaltigen Demokratie misst sich an ihrer Fähigkeit zur ständigen Reform. Nur wenn es möglich ist, aus gemachten Fehlern zu lernen und sich auf neue Lösungsansätze zu einigen, zum Beispiel durch den Einsatz direktdemokratischer Volksrechte, bleiben auch die gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter den Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Ingredienz: eine lernende Demokratie ist immer auch eine direkte Demokratie.
Es ist fast ein Gesetz: Wer durch Wahlen an die politische Macht gelangt, beginnt sehr schnell, mit allen Mitteln diese Macht zu verteidigen. Dies schadet der Demokratie enorm, wie gegenwärtig Grossbritanniens Premier deutlich macht. Wer aber wie Tunesiens Gewerkschaften nach der Revolution auf Machtteilung setzt, zeigt Führungsqualitäten (und verdient einen Nobelpreis). Die sechstwichtigste Zutat: Führen ist nicht gleich durchregieren.
Überschwänglicher Jubel hier, tiefe Niedergeschlagenheit dort. Und manchmal kommt es noch schlimmer, wie etwa auf den Philippinen oder in UngarnExterner Link, wo nach einem Machtwechsel, die grundlegenden Freiheitsrechte der Menschen eingeschränkt wurden. Dabei sind wir darauf angewiesen, dass Sieger und Verlierer einen Urnenentscheid ohne Wenn und Aber akzeptieren können. Am fünftwichtigsten sind deshalb Antworten auf die Frage, wie wir zu «glücklichen Verlierern»Externer Link werden.
Die Kluft zwischen Wählern und Gewählten hat einen Namen: die Verwaltung. In der Bürokratie eines Gemeinwesens halten sich lange eingeübte, nicht unbedingt sehr bürgerfreundliche Verhaltensweisen oft viel länger als erwünscht. Deshalb müssen auch die Beamten auf (direkt)demokratischere Zeiten eingestimmt werden. In der finnischen Hauptstadt Helsinki Externer Linkgeschieht dies seit kurzem mittels eines partizipativen Rollenspiels. Die viertwichtigste Zutat: eine auf die moderne Demokratie eingestimmte Verwaltung.
Und hier die Top drei Demokratie-Ingredienzen:
Wenn Richter zu Spielbällen der Politik werden, dann wird es für die Bürgerinnen und Bürger sehr schwierig, ihre freie Meinung zu äussern – und damit Entscheide zu beeinflussen. In Russland Externer Linkwerden Kritikerinnen und Kritiker des aktuellen Putin-Regimes nicht nur von der Wahl ausgeschlossen, sie müssen auch mit langen Gefängnisstrafen rechnen. Deshalb ist und bleibt eine unabhängige Justiz eine Grundvoraussetzung für jede Demokratie und ist unser drittwichtigster Faktor.
«Wir sind das Volk», riefen vor 30 Jahren die Demonstranten auf den Strassen und Plätzen der DDR, der damaligen kommunistischen Deutschen Demokratischen Republik. Was sie verlangten: mehr Mitsprache. Mit dem gleichen Spruch gehen heute in Ostdeutschland wieder Menschen auf Stimmenfang. Diesmal sind es Anhänger der rechtsnationalen AfD (Alternative für Deutschland). Allerdings nun mit der entgegengesetzten Forderung: weniger Rechte für Nicht-Deutsche. Dabei ist jedes Gemeinwesen darauf angewiesen, dass sich darin möglichst viele engagieren und einbringen. Auch die Jungen. Deshalb als zweitwichtigste Zutat: eine Ausweitung und Stärkung des Stimm- und WahlrechtesExterner Link.
Schon der antike Staatsmann Perikles wusste vor über 2500 Jahren, was eine Demokratie von einer Nicht-Demokratie unterscheidet: Der Dialog vor dem Entscheid. Der Erfolg eines demokratischen Systems hängt bis heute davon ab, ob die Teilnehmenden vor einem Beschluss am vorgängigen Dialog beteiligt waren. Deshalb macht es Sinn, dass wie in der Schweiz Bundesrat und Parlament einer Volksinitiative einen Gegenvorschlag unterbreiten können, etwa im Unterschied zu Kalifornien, wo viel mehr aneinander vorbei gesprochen wird. Darum am Allerwichtigsten: der Dialog ist die Seele der Demokratie.
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