«Es geht um den Schutz der Bürger vor dem Staat»
"Maulkorb": So kommentieren Vertreter der Kantone den Entscheid des Bundesgerichts, dass sich die Konferenzen der kantonalen Fachdirektoren nicht mehr zu nationalen Abstimmungsvorlagen äussern dürfen. Rechtsexperte Lorenz Langer vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) sieht das anders: Unter dem Strich hätten die Kantone gar mehr Einflussmöglichkeiten erhalten.
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● Wer hat in der Demokratie Schweiz etwas zu sagen?
● Wer hat in der Demokratie Schweiz das Sagen?
● Wer darf in der Demokratie Schweiz wann was sagen und wann nicht?
So hat das Bundesgericht Ende 2018 entschieden:
● Die Konferenz der KantonsregierungenExterner Link oder kurz KdK genannt, darf – grün.
● Die Regierung eines Kantons darf auch – grün.
● Die Konferenzen der kantonalen FachdirektorenExterner Link dürfen nicht – rot!
Es gibt 15 solcher Fachkonferenzen der kantonalen Departementsleiter. Zu den bekanntesten zählen die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren (mehr dazu siehe Box unten).
Das Nein zur Vollgeldinitiative
Den Fall ins Rollen gebracht hat die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren. In der Kampagne zur Abstimmung über die Vollgeldinitiative im letzten Juni warfen sich die kantonalen Finanzchefs für ein Nein ins Zeug. Das stach den Initianten in die Nase – sie zogen vor Bundesgericht.
Dieses gab ihnen Recht – die Abstimmungsempfehlung sei nicht rechtensExterner Link gewesen. Die Begründung: Einerseits sei die Abstimmungsfreiheit der Bürger tangiert, andererseits sei die Meinungsbildung innerhalb der Fachkonferenz gegen aussen nicht transparent und somit nicht nachvollziehbar.
Weil aber die Vollgeld-Initiative an der Urne mit über 75% Nein-Stimmen klar abgewiesen worden ist, sahen die Lausanner Richter von Sanktionen ab. Beispielsweise einer Wiederholung der Abstimmung.
Gleichzeitig aber – siehe oben – hat das Bundesgericht der Konferenz der Kantone sowie den einzelnen Kantonsregierungen grünes Licht gegeben. Sie dürfen sich also zu nationalen Abstimmungsvorlagen äussern.
Kantone wollen Gesetz mit Mitsprachegarantie
Nichts desto trotz: Die kantonalen Finanzdirektoren empfinden das Urteil aus Lausanne als Maulkorb. Umso mehr, als im kommenden Mai die wichtige Abstimmung über die Sanierung des Rentensystems und die Unternehmensbesteuerung zur Abstimmung steht. Von letzterer sind auch die Kantone betroffen.
Der Neuenburger Finanzdirektor Laurent Kurth verschaffte sich am Westschweizer Radio RTS Luft. In seinem Kanton könne die Regierung ihre Meinung zur Vorlage kundtun, und er könne dies als Neuenburger Finanzdirektor ebenso tun, falls er von seinen Regierungskollegen dazu beauftragt werde. Ebenso dürfe sich die Konferenz der Kantonsregierungen äussern. «Aber die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren darf es nicht», so Kurth.
Diesen Maulkorb wollen auch Charles Juillard, der Präsident der Fachkonferenz der kantonalen Finanzdirektoren, und Pascal Broulis, Finanzchef des Kantons Waadt, nicht akzeptieren: Sie kündeten einen Vorstoss zu einer Gesetzesänderung an, die den kantonalen Fachkonferenzen das Recht zur Meinungsäusserung auch in Abstimmungskampagnen garantieren soll.
Christophe Darbellay, Chef des Departementes für Volkswirtschaft und Bildung in der Walliser Kantonsregierung, unterstützt das Vorhaben. Er könne nicht verstehen, warum das Bundesgericht beginne, das Gesetz zu diktieren. «Wir erleben eine Verrechtlichung der direkten Demokratie», kritisiert Darbellay im Radiobeitrag.
Rechte dazugewonnen
Die Aufregung der Kantonspolitiker kann Rechtsexperte Lorenz LangerExterner Link nicht recht nachvollziehen. «Ich bin etwas überrascht, wenn sich jetzt die Kantone darüber beklagen, dass sich ihre Fachdirektorenkonferenzen nicht mehr äussern dürfen. Denn insgesamt können sich die Kantone heute stärker einmischen – über die Kantonsregierungen und die Konferenz der Kantone als Dachorganisation», sagt Langer gegenüber swissinfo.ch. Sie beklagten sich also auf hohem Niveau.
Die Kantone
Die 26 Kantone der Schweiz bilden in der föderalistischen Schweiz die mittlere Staatsebene. Darüber ist der Bund, darunter liegen die 2212 Gemeinden.
Die Kantone sind politisch stark aufgestellt. Im Parlament verfügen sie über eine eigene Kammer, den Ständerat. Jeder Kanton stellt zwei Vertreter.
Stimmen die Stimmbürger über eine Verfassungsänderung ab, muss auch die Mehrheit der Kantone zustimmen («doppeltes Mehr»).
Zusätzlich zum Ständerat verfügen die Kantone über zahlreiche Lobby-Organisationen, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen.
Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ist die Dachorganisation. Dazu kommen 15 Konferenzen von kantonalen Fachdirektoren.
Auswahl: Konferenz der kantonalen Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren, Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren, Konferenz der kantonalen Energiedirektoren, Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren, Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, Konferenz der kantonalen Direktoren für öffentlichen Verkehr, Konferenz der kantonalen Landwirtschaftsdirektoren.
Die gebündelte Kraft der Kantons-Organisationen kommt im Haus der Kantone in Bern zum Ausdruck, in dem sie angesiedelt sind.
Das Argument der Kritiker, die Kantone könnten vor einer Abstimmung ihre Fachkompetenz nicht mehr in den Meinungsbildungsprozess einbringen, lässt Langer nicht gelten.
«Sie können ihre Fachkompetenz im Rahmen der Konferenz der Kantonsregierungen einbringen, denn diese darf ja Stellung nehmen. Und den Kantonen steht es frei, wen sie in dieses Dachgremium delegieren.»
Tatsächlich hat das Bundesgericht lange nur Stellungnahmen einer Exekutive zu eigenen Abstimmungsvorlagen als rechtmässig taxiert. Nur bei besonderer Betroffenheit durften sich Gemeinden oder Kantone zu eidgenössischen Vorlagen äussern.
2018 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz über GeldspieleExterner Link geändert, und dies dann bei der erwähnten Vollgeldinitiative bestätigt.
Keine Staatspropaganda
«Das grosse Thema, um das es hier geht, ist die Abstimmungsfreiheit», erklärt Langer. Jede Stimmbürgerin und jeder Stimmbürger hat das Recht auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe.»
Die Stimmenden dürften nicht auf unrechtmässige Art beeinflusst werden. Gerade öffentliche Behörden hätten sich im Abstimmungskämpfen zurückzuhalten, damit sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen würden, Staatspropaganda zu betreiben.
Entscheidend sei der Unterschied zwischen privat und staatlich. Private können sich im Abstimmungskampf auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen, nicht aber die staatlichen Behörden; Grundrechte schützen die privaten Bürger vor dem Staat, so Langer weiter.
Künstliche Unterscheidung
Zwar teilt der Jurist die Ansicht des Bundesgerichts, dass bei den Fachdirektorenkonferenzen (FDK) das Entscheidungsprozedere für Aussenstehende nicht transparent und nachvollziehbar sei. Weil dies aber auch für die Konferenz der Kantone als Dachorganisation zutreffe, hält Langer die Unterscheidung des Gerichts zwischen der KdK und den Fachdirektorenkonferenzen (FDK) nach der Formel «KdK grün, FDK rot» für eine künstliche.
Zwar sei gemäss KdK-Statuten für einen Entscheid eine Mehrheit von 75% notwendig. Aber es werde gegen aussen nicht klar, ob ein Entscheid einstimmig gefällt worden sei oder ob einzelne Kantone ausgeschert seien. So könne der falsche Eindruck vermittelt werden, dass es eine geschlossene Front der Kantone für oder gegen eine Vorlage gebe, die es so tatsächlich nicht gibt.
Als Beispiel nennt Langer die Medienkonferenz mit der damaligen Verkehrsministerin Doris Leuthard vor der Abstimmung über den Bau einer zweiten Gotthardröhre für den Autoverkehr 2016. «Am Anlass wurde die Sache so präsentiert, als hätten die kantonalen Verkehrsdirektoren geschlossen die Ja-Parole gefasst. Dabei waren einzelne Kantone gegen das Vorhaben, so Uri und Neuenburg.»
Für Langer zeigt sich die Nähe der KdK und der Fachdirektorenkonferenzen auch rein physisch, befinden sich doch beide unter ein und demselben Dach – im Haus der Kantone in BernExterner Link. «Allein schon diese Nähe zeigt, wie austauschbar diese Gremien sind.»
Rechtsordnung unterminiert
Was ihn als Juristen aber mindestens ebenso stört, ist der Umstand, dass das Bundesgericht zwar wiederholt die Rechtswidrigkeit von kantonalen Interventionen bestätigt hat, diese aber stets mit dem Hinweis auf das klare Abstimmungsresultat nie sanktioniert habe.
«Gibt es in den nächsten Jahren weitere solche Rechtsverletzungen, die keinerlei juristische Konsequenzen haben, unterminiert das die Legitimität einer Rechtsordnung, wenn diese nicht durchgesetzt wird. Insbesondere für jene Gruppen, welche die Rechtsverletzung beklagen.»
Die formalistische Unterscheidung zwischen KdK und Fachdirektoren lässt sich laut Langer in der Praxis aber kaum durchsetzen. Sinnvoller wären deshalb inhaltliche Kriterien: Auch die Fachdirektorenkonferenzen können informieren, sofern dies auf transparente und verhältnismässige Weise geschieht.
Der Autor auf TwitterExterner Link.
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