Demokratie leben ist eine Kompetenz, die gelernt sein will
Junge Menschen mit einem Rucksack voller Wissen und Fähigkeiten auszustatten, damit sie sich in die schweizerische Demokratie einbringen können: Dies ist das Ziel der politischen Bildung 2.0. Ein Blick mit Bildungsspezialistin Monika Waldis auf ein neues Konzept mit alten Grenzen.
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Es war ein mittlerer Schock: Schweizer Schülerinnen und Schüler schnitten 1999 in der internationalen Vergleichsstudie «International Civic and Citizenship Education Study» (ICCS)Externer Link schlecht ab. Dies nicht etwa in Physik oder Biologie, sondern im Bereich politische Bildung.
2010 Externer Linkzeigte sich nochmals dasselbe Bild. 2016 machte die Schweiz beim Vergleich nicht mehr mit – aus Kostengründen.
Wenn bei der Weltmeisterin in direkter Demokratie der Nachwuchs Mühe punkto politischem Wissen und Verstehen hat, dann ist Handeln angesagt. Zur Erinnerung: Niemand auf der Welt kann so oft abstimmen wie die Schweizerinnen und Schweizer.
Auch als Folge dieses Fiaskos hat die Schweiz die politische Bildung neu aufgegleist. Die Grundlage dafür ist im neuen «Lehrplan 21»Externer Link für die Primar- und Oberstufe verankert (siehe Box I und II). Zusammengefasst könnten die Ziele dieser politischen Bildung 2.0 auf die Kurzformel «politische Kompetenz» gebracht werden.
«Ein kompetenter Umgang mit Politik setzt ein grundsätzliches Wissen darüber voraus, welche Institutionen es gibt, was Gewaltentrennung ist und weshalb die Menschenrechte so wichtig sind.» Monika Waldis
«Es gibt gewisse Dinge zu Politik, die man erlernen kann wie Mathematik, eine Fremdsprache oder ein anderes Schulfach. Ein kompetenter Umgang mit Politik setzt ein grundsätzliches Wissen darüber voraus, welche Institutionen es gibt, was Gewaltentrennung ist und weshalb die Menschenrechte so wichtig sind», sagt Monika WaldisExterner Link.
Die Professorin leitet das Zentrum für Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, das dem Zentrum für Demokratie Aarau angegliedert ist.
Raus aus der Nische?
«Zudem sollen Schülerinnen und Schüler politische Prozesse kennen sowie über Möglichkeiten verfügen, ihre eigenen Interessen in einen Diskurs einzubringen.» Was für Waldis zentral ist: Die Jungen müssen fähig sein, Gestaltungspielraum zu erkennen.
Politik, Demokratie und Menschenrechte
Das sind die Lernziele, die im neuen «Lehrplan 21» (Einführung 2021) für die politische Bildung verankert sind:
«Demokratie und Menschenrechte sind Grundwerte unserer Gesellschaft und bilden zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit die Leitlinien für die Politik. (…)
Schülerinnen und Schüler setzen sich mit politischen Prozessen auseinander, lernen diese zu erkennen, verstehen Grundelemente der Demokratie und kennen grundlegende Funktionen öffentlicher Institutionen. (…)
Sie engagieren sich in der schulischen Gemeinschaft und gestalten diese mit. Sie lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, eigene Anliegen einzubringen und diese begründet zu vertreten. Sie befassen sich mit dem Verhältnis von Macht und Recht, diskutieren grundlegende Werte und Normen und setzen sich mit Konflikten, deren Hintergründe sowie möglichen Lösungen auseinander.»
Das tönt gut. Aber Waldis, die das Konzept der politischen Bildung 2.0 auch am letzten Freitag im Rahmen der Aarauer Demokratietage 2019Externer Link vorgestellt hat, warnt vor übertriebenen Hoffnungen. Denn auch im neuen Lehrplan 21 kommt politische Bildung nicht über ein Nischendasein hinaus – mit einer Lektion pro Woche.
Der Lehrplan 21 gilt für die deutschsprachige Schweiz. Die französischsprachige Westschweiz hat eine eigene Version der neuen Grundlage. Im italienischsprachigen Kanton Tessin hatten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger 2017 Ja gesagt zur Etablierung von Staatskunde als eigenem Schulfach.
Orientierung im politischen Prozess
Um welche politischen Kompetenzen aber geht es konkret? Im Staatskundeunterricht der 1970-er Jahre war es in republikanischem Sinne um Erziehung zur bürgerlichen Pflichterfüllung gegangen: Wählen und Abstimmen gehen.
Die politische Bildung der neusten Generation ist breiter angelegt und will zu politischer Teilhabe führen, auch in der Zivilgesellschaft. Schülerinnen und Schüler, so die Bildungsexpertin, sollen zu diesem Zweck nebst einem Grundwissen die Fähigkeit zur Urteilsbildung erwerben. Dies bedeutet: Das Lesen von politischer Information, die kritische Analyse und eine zunehmend selbständige Positionierung zu politischen Fragen.
Darüber hinaus sind angesprochen: Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Analyse- und Problemlösefähigkeit, Kritik- und Reflexionsfähigkeit, Konsensfähigkeit, Widerstandsfähigkeit, die Übernahme von Verantwortung und der Wille zur Freiheit.
«Politische Bildung vermittelt den Jungen die Kompetenzen, eigene Urteile zu fällen und sich in politischen Sachfragen zu orientieren. Diese Orientierung kann bei einem Jugendlichen dazu führen, dass er für den Klimaschutz streikt, während eine andere Jugendliche zum Schluss kommt, dass sie dem Streik fernbleibt», so Waldis.
Man könnte auch sagen: Der neue Lehrplan kontert den alten Vorwurf von rechts, wonach in der politischen Bildung linke Lehrer ihre Schüler zu aufmüpfigem Verhalten anstifteten. Sein Ziel ist das selbstverantwortliche demokratische Handeln.
«Diese Orientierung kann bei einem Jugendlichen dazu führen, dass er für den Klimaschutz streikt, während eine andere Jugendliche zum Schluss kommt, dass sie dem Streik fernbleibt.» Monika Waldis
Schlüsselkompetenzen als Ressource
Heute stehe in der Bildung die «Employability», die Fähigkeit junger Menschen, auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, an erster Stelle, sagt Waldis. Bildung werde als sehr wichtiger Aspekt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft betrachtet.
«Politische Bildung zielt auf Fragen des demokratischen Zusammenlebens und fokussiert auf die Reflexion von gesellschaftlichen Werten und Normen. Hinzu kommt die Urteilsfähigkeit», sagt Monika Waldis. Aber auf den zweiten Blick betrachtet, trage sie auch zur Employability bei. Denn in Stellenanzeigen würden oft Kommunikationsfähigkeit, Teamkultur, Kompetenzen zur Problemlösung, interdisziplinäre Zusammenarbeit, Mitgestaltung von Prozessen und Strukturen etc. als erwünschte Kompetenzen genannt.
Waldis Ideal: Politische Bildung ist ebenso als Ressource anerkannt wie die schulisch stark geförderten Naturwissenschaften oder IT-Fächer. Diese gelten im politischen-ökonomischen Kanon der Schweiz als Fundament für die Erhaltung des Lebensstandards und der hohen Innovationskraft des Landes.
Lehrplan 21
Die Schulbildung gründet in der Schweiz auf drei Pfeilern:
Erstens: dem neuen Lehrplan 21. Er ist eine Art Kompass oder Roadmap. In der Grundlage sind die Lernziele für den Unterricht an den Schulen verankert. Geltungsbereich: ganze Schweiz.
Zweitens: den Lehrmitteln. Sie enthalten die konkreten Lerninhalte, welche die Lehrpersonen im Unterricht mit ihren Schülern behandeln. Kantone können in den Unterrichtsmaterialien eigene Schwerpunkte legen.
Drittens: den Lehrerinnen und Lehrern. Sie setzen die Lerninhalte, gestützt auf die Lernziele, im Unterricht um. Hier ist das Engagement der Lehrpersonenmitentscheidend.
Rollenspiele
Für die Umsetzung im Unterricht empfiehlt Waldis nebst Formen der Wissensvermittlung erlebnisorientierte Formate, in denen die Schülerinnen und Schüler als forschende Reporterinnen und Reporter unterwegs sind, mit Politikerinnen und Politikern ins Gespräch kommen, oder in die Rollen politischer Akteurinnen und Akteure schlüpfen können. Wie etwa bei «Jugend debattiert» oder dem Planspiel «Politik macht Gesetz», welches das Zentrum für Demokratie Aarau mit Erfolg für Schulen anbietet.
Wie aber kommen die hehren Lernziele nun konkret in den praktischen Unterricht zu den Kindern und Jugendlichen in die Klassenzimmer? Zumindest der Zeitplan dafür steht. «Der neue Lehrplan ist in der Einführungsphase, die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer hat begonnen», sagt Monika Waldis.
Es bleiben aber genügend Knacknüsse. Waldis hofft, dass sich die Lehrpersonen in Weiterbildungen die notwendige Unterstützung holen. «Denn sie müssen sehr gut informiert sein, weil Schülerinnen und Schüler auch heikle Fragen stellen. Ihr Fachwissen muss deutlich über das Schulbuchwissen hinausgehen.»
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Hürde Föderalismus bleibt
Eine Hürde bedeutet der Föderalismus: Die Umsetzung der Lernziele liegt letztendlich in der Hoheit der kantonalen BildungsdepartementeExterner Link. Es muss sich erst zeigen, ob diese der politischen Bildung 2.0 auch tatsächlich den nötigen Schwung verleihen.
Denn in der Schweiz sind es immer noch sie beziehungsweise die Kantone, die bei Bildung und Erziehung auf ihrem Hoheitsgebiet das Sagen haben.
Und was auch mit einer noch so modernen Roadmap nie ändert: Guter und lebendiger Unterricht steht und fällt mit dem Engagement der Lehrpersonen.
Der Autor auf TwitterExterner Link.
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