Vor der Rentenreform ist nach der Rentenreform
Am 24. September 2017 stimmen die Schweizerinnen und Schweizer über eine Reform der nationalen Altersvorsorge ab. Es ist ein ebenso wichtiger wie vorläufiger Beschluss und zeigt beispielhaft auf, zu welchem Preis eine moderne direkte Demokratie zu haben ist.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Nicht zum ersten Mal stehen die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in diesem Jahr vor einer wichtigen Weichenstellung. Im Mai entschieden sie sich nach intensiver Debatte sehr deutlich für einen Ausstieg aus der Atomkraft und für den Abschied von fossilen Energieträgern (59% Ja zu 41% Nein).
Nun steht die seit Jahren heiss diskutierte und angesichts der zunehmenden Lebenserwartung der Menschen im Land immer lauter geforderte Reform der Altersvorsorge an. Auch in der Schweiz wächst der Anteil der Rentenbezüger an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich. Während Jahrzehnten das Prunkstück der Schweizerischen Sozialpolitik, droht der Rentenversicherung angesichts dieser Überalterung der Gesellschaft in den nächsten Jahren der Kollaps.
Im Frühjahr einigte sich das Schweizer Parlament auf eine entsprechende Änderung der Verfassung wie auch ein begleitendes Umsetzungsgesetz. Unter anderem soll das Renteneinstiegsalter für Frauen von heute 64 Jahren jenem der Männer ( 65 Jahre) angepasst, die Mehrwertsteuer leicht erhöht und die monatliche Einstiegsrente um 70 Franken erhöht werden.
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Und die Schweizer Stimmbürger schufen die AHV-Rentner
Thema fast so alt wie die Schweiz
Die Geschichte der Altersvorsorge in der Schweiz ist auch eine Geschichte der modernen Demokratie (siehe Box unten): wie so oft brauchte es angesichts des direkten Einbezuges der Bürger (ab 1971 auch der Bürgerinnen) im Gesetzgebungsprozess mehrere Anläufe.
Dabei ging der letztlich durchgesetzten Einführung der der Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV) im Jahre 1948 eine fast sechzig Jahre dauernde öffentliche Debatte voraus: immer wieder kam es dabei zu Kompromisslösungen in der politischen MitteExterner Link, die sowohl von links wie auch rechts bekämpft wurden.
So auch wieder in der aktuellen Diskussion um das Reformpaket «Altersvorsorge 2020», gegen das linke Gewerkschafter («Länger arbeiten, weniger Rente!»Externer Link) das Referendum ergriffen und das nun im Abstimmungskampf von rechtsbürgerlicher Seite («Verrat an den Jungen!»Externer Link) bekämpft wird. Die vorliegende Lösung, so kommentierte Daniel Foppa von den Zeitungen Bund und Tagesanzeiger den Parlamentsbeschluss, sei «der Preis der direkten Demokratie»Externer Link.
Damit spricht der Journalist den Umstand an, dass die vorgeschlagene Reform Mehrkosten im Milliardenhöhe mit sich bringt. Diese seien, so Foppa, angesichts der demografischen Entwicklung «längerfristig nicht verantwortbar».
Den Fünfer und den Wecken gibt es nicht
Dabei würden in erster Linie Wirtschaftsfachleute das Rentensystem am liebsten entpolitisieren und die einzelnen Zahlungen von bestimmten, variablen Eckdaten abhängig machen. Dies ist etwa in Schweden Externer Linkoder Dänemark seit einigen Jahren der Fall: Dort passt sich das Rentenalter wie auch die Höhe der Rente der jeweiligen Wirtschaftsentwicklung und der durchschnittlichen Lebenserwartung im Land an. Das stellt die Finanzierung der Altersvorsorge längerfristig auf eine solide Basis.
Das führt aber auch dazu, dass immer mehr Rentner – sie machen in Schweden laut EU-Angaben rund ein Fünftel der Bevölkerung aus – unter die Armutsgrenze fallen und von zusätzlicher Sozialhilfe abhängig werden.
So bleibt die Altersvorsorge auch in diesen nordischen Wohlfahrtsstaaten eine eminente politische Frage, die immer wieder von neu beurteilt werden muss. Das hat nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Schweden Geschichte: Dort wurde das – wie in der Schweiz auf drei Pfeiler abgestützte Rentensystem – vor sechzig Jahren in einer nationalen Volksabstimmung abgesegnet.
Allerdings sind die Volksrechte in dem nordischen Land viel weniger stark in der Verfassung verankert als in der Schweiz. Vielmehr obliegt Volkes Stimme dem «guten Willen» der gewählten Repräsentanten: Sie können von Fall zu Fall die Bürgerinnen und Bürger beiziehen – in Konsultativabstimmungen.
Eine Handhabe von unten – in Form von Volksinitiativen – gibt es in Schweden wie etwa auch in Deutschland oder den USA nur auf der lokalen Ebene. Anders die Ausgangslage in Ländern, die ausgebaute direktdemokratische Instrumente auch auf der nationalen Ebene kennen: So haben in der Vergangenheit auch schon die Bürgerinnen und Bürger von Lettland, Uruguay, Slowenien und LitauenExterner Link zur Altersvorsorge an der Urne Stellung beziehen können.
Geschichte ohne Ende
Wo das Thema der Altersvorsorge auf den Prozess der (direkten) Demokratie stösst, hat sich ein klares Prinzip herauskristallisiert: Nur ein breit abgestützter und in der breiten Öffentlichkeit als ausgewogen erachteter Kompromissvorschlag hat eine Chance, eine Mehrheit zu finden.
Das hat zur Folge, dass kaum grosse, zukunftsträchtige Würfe möglich sind, sondern dass die Weiterentwicklung fast immer in kleinen Schritten geschieht. Die Geschichte der Schweizer AHV mit ihren zahlreichen Revisionen, Angriffen und Schutzmanöver spricht diesbezüglich Bände.
In einer modernen (direkten) Demokratie werden wichtige Beschlüsse mit der Bevölkerung immer wieder «ab-gestimmt». Das heisst aber auch, dass die Zeit NACH einer solchen Abstimmung, wie sie jetzt zur Reform der Altersvorsorge in der Schweiz ansteht, immer auch schon die Zeit VOR der nächsten Abstimmung bedeutet. Und das ist auch gut so. Unabhängig vom Standpunkt in einer bestimmten Sachfrage, der Freude über einen Abstimmungserfolg oder der Enttäuschung über eine Niederlage.
Der Dauerbrenner der Demokratie Schweiz
Bisher gab es in der Schweiz 14 Abstimmungen über die Altersvorsorge. Daraus resultierten 12 Nein und 2 Ja.
OR: Obligatorisches Referendum; VI: Volksinitiative; VR: Volksreferendum.
1931 AHV-Einführung (OR), 60% Nein
1947 AHV-Einführung (OR), 80% Ja
1978 Senkung des Rentenalterns (VI), 80% Nein
1978 AHV-Reform (VR), 65% Ja
1988 Senkung des Rentenalterns (VI), 65 % Nein
1995 AHV-Ausbau (VI), 72% Nein
1998 Gegen Erhöhung des Rentalters (VI), 59% Nein
2000 AHV-Flexibilisierung (VI), 60% Nein
2001 AHV-Finanzierung (VI), 77%VR Nein
2002 AHV-Finanzierung (VI), 52% Nein
2008 Flexibles AHV-Alter (VI), 59% Nein
2010 Kürzung der Invalidenrente (VR), 72 % Nein
2015 AHV-Finanzierung (VI), 71% Nein
2016 AHV-Finanzierung (VI), 59% Nein
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