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Mit Geschenken die Schweizer Lokaldemokratie retten?

Lockstoff: Mit kleinen Geschenken wie einer feinen Bratwurst vom Grill mehr Bürgerinnen und Bürger an die Gemeindeversammlungen bringen? Funktioniert nicht, haben Schweizer Forscher herausgefunden. Keystone

Gratis-Kehrichtsäcke, Grillwürste, kühles Bier und Gutscheine: Damit locken einige Gemeinden ihre Bürgerinnen und Bürger an die Gemeindeversammlung, dem Herzstück der Schweizer Lokaldemokratie. Doch: Braucht die direkte Demokratie Geschenke? Die Antwort fällt überraschend aus.

Die direkte Demokratie krankt im Schweizerland. Das lassen zumindest die vielen leeren Stühle an den rund 4000 Gemeindeversammlungen vermuten, die jedes Jahr in rund 2000 Gemeinden Land auf Land ab stattfinden. An diesen meist abendlichen Versammlungen entscheidet das Volk per Handerheben beispielsweise darüber, wie viel Geld das Dorf ausgeben darf, ob ein neues Schulhaus gebaut wird oder die Steuern erhöht werden sollen.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.

Laut Daniel Kübler, Professor der Politikwissenschaft an der Universität ZürichExterner Link und bis 2016 Direktor des Zentrums für Demokratie AarauExterner Link, verfügt man zwar nur über wenige Daten zu den Teilnehmerzahlen an Gemeindeversammlungen. «Doch über die Jahrzehnte hinweg lässt sich eine stetige Senkung feststellen.»

Die Beteiligung bewegt sich heute durchschnittlich unter 10% der Stimmberechtigten – wobei die Zahl je nach Gemeinde stark schwankt. Die Gründe für die leeren Stühle in den Versammlungshallen sind vielfältig: Da wird die Komplexität der Themen beklagt, eine zu geringe Information oder die zunehmende Anonymität in den grösser werdenden Gemeinden.

Eine Entwicklung, die für die gesamte direkte Demokratie zum Problem wird. Denn diese kann nur funktionieren, wenn sich Menschen an der Basis beteiligen – und vor allem: beteiligen wollen.

Fussballspiel, Restaurant-Gutscheine, Babysitter

Viele Gemeinden wollen darum nicht einfach zusehen, wie dieser demokratische Glutkern zu verglühen droht und ergreifen Gegenmassnahmen. Es gibt Dörfer, die einen Babysitter-Dienst anbieten, um beide Elternteile an die Versammlung zu locken. Manche Gemeinden setzen den Versammlungstermin am Samstagnachmittag an, um eine Kollision mit der Arbeitswelt zu verhindern. Andere organisieren Verlosungen unter den Anwesenden, beispielsweise für ein Gratis-Zugticket oder Gutscheine für das Dorfrestaurant.

Oder sie überreichen tatsächlich kleine Geschenke, beispielsweise eine Rolle gebührenpflichtiger Abfallsäcke im Wert von 22 Franken. Und mindestens eine Gemeinde hat während der Fussball-Europameisterschaft im vergangenen Sommer die Stimmbürger dazu eingeladen, vor der Versammlung ein Spiel des Schweizer Teams auf dem Grossbildschirm zu schauen. Ein Lockmittel aber dominiert: der gesellige Umtrunk nach der Debatte.

Fast 1000 Gemeinden verschwunden

2016 sind in der Schweiz 39 Gemeinden verschwunden. Ab 1. Januar 2017 zählt das Land noch 2255 Gemeinden.

Damit setzt sich ein langanhaltender allgemeiner  Trend weiter fort. 1860 hatte die Schweiz noch aus über 3200 Gemeinden bestanden.

Die Abnahme entsteht durch Fusion mit anderen Gemeinden. Die Gründe dafür sind meist Knappheit an Finanzen und personellen Ressourcen.

Die Gemeinden bilden das Rückgrat der Schweizer Demokratie, ist ihnen doch eine weitreichende Autonomie garantiert.

Dies aufgrund des Prinzips des Föderalismus, der die Macht in der Schweiz auf die drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden aufteilt.

Besonders engagiert in diesem Kampf gegen leere Stuhlreihen ist WimmisExterner Link, ein Dorf am Eingang des Berner Oberlandes. «Wir versuchen immer wieder, etwas Neues zu finden, das die Menschen an die Versammlung bringt. Manches funktioniert, anderes nicht», sagt Gemeindepräsident Peter Schmid. Zur Tradition geworden ist bereits ein kleiner Imbiss nach der Versammlung. Im Winter gibt es einen Apéro mit Züpfe (Hefezopf) und Hobelkäse. Im Sommer können sich die Teilnehmenden vor der Aula an grillierten Würsten und kühlen Getränken laben.

Wertvolles Zusammenkommen

Das soll eine kleine Belohnung sein, aber auch eine Möglichkeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Peter Schmid sagt: «Dieses Zusammenkommen ist sehr wertvoll. Viele stellen ihre Fragen erst dann, weil sie sich an der Versammlung vielleicht nicht trauen.» Seit dieses Angebot eingeführt wurde, stieg die Teilnehmerzahl an der Wimmiser Gemeindeversammlung von 40 bis 50 auf 60 bis 80 Personen – was allerdings nur einen Bruchteil der insgesamt 1800 Stimmberechtigten in der Gemeinde ausmacht.

Im letzten Dezember hat Wimmis ausserdem einen Fahrdienst für jene Stimmbürger eingeführt, die nicht mehr so gut zu Fuss sind oder etwas abgelegen wohnen. Richtig angekommen ist der Service aber noch nicht: An der letzten Gemeindeversammlung war es lediglich eine einzige Person, die sich ins Gratistaxi setzte. Nicht nur bei der Gemeindeversammlung, auch bei den Wahlen hat Wimmis einst ein Anreizsystem ausprobiert. Unter allen Wählenden verloste man «Wimmis-Gutscheine», also Gutscheine für den Metzger, den Bäcker oder das Restaurant.

Schmid betont jedoch auch: «Man muss schauen, dass man es nicht übertreibt.» Es solle nie dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, sie würden sich nur wegen der Geschenke beteiligen. «Es muss eine diskrete Aktion sein, ein kleines Merci.»

Geschenke untergraben Bürgerpflicht

Genau darin liegt auch die Problematik solcher Anreizsysteme. Wie eine Studie des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) zeigt, können diese nämlich das filigrane Gebilde der Bürgerpflicht untergraben, die die Menschen zur politischen Teilhabe bewegt.

Für die Untersuchung legte man den Befragten verschiedene Einladungen für fiktive Gemeindeversammlungen vor, bei denen sie angeben mussten, ob sie diese besuchen würden. Wie sich zeigte, fühlte sich die Gruppe der regelmässigen Teilnehmer von Geschenken abgeschreckt. Und auf jene, die normalerweise einen Bogen um Gemeindeversammlungen machen, übte beispielsweise das Traktandum einer Steuererhöhung eine weit grössere Anziehung aus als die Aussicht auf ein Geschenk.

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Geschenke schrecken ab

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Politikwissenschafts-Professor Daniel Kübler erklärt, weshalb Geschenke für die Teilnehmer an Gemeindeversammlungen abschreckend wirken.

Mehr Geschenke schrecken ab

Daniel Kübler erklärt diesen Effekt mit der Motivation der Teilnehmenden, die von innen her komme. «Ein Geschenk zu erhalten, wird als Entwertung des eigenen Engagements, der Bürgerpflicht empfunden.» Er zitiert dazu eine Studie, deren Ergebnisse in eine ähnliche Richtung zeigen. Die Akzeptanz von einem Atomendlager in der Gemeinde sinkt gemäss dieser Erhebung, wenn man den Einwohnerinnen und Einwohnern sagt, dass man ihnen für ein solches Lager Geld geben würde. «Man zerstört damit die ganz persönliche Motivation.»

Anstelle von Geschenken empfehlen sich laut Daniel Kübler daher eher Massnahmen, die den Bürgerinnen und Bürgern die Teilnahme an der Versammlung erleichtern, beispielsweise die erwähnten Fahr- oder Kinderhütedienste. Oder ein Informationsheft, das die Traktanden von allen Seiten beleuchtet und auch die Kontra-Argumente aufführt.

Die Versammlungsdemokratie, die Urform der Demokratie, krankt also in den Schweizer Dörfern. Ist sie gar dem Tod geweiht? Daniel Kübler verneint. «Die Gemeindeversammlung funktioniert.» Denn die Studie zeigt ebenfalls auf, dass sich die Abwesenheit der Dorfbewohner nicht etwa aus Ablehnung speist. Im Gegenteil.

Alle Befragten – ob regelmässiger Teilnehmer oder Nichtbesucher der Gemeindeversammlung – zeigten sich mit der Arbeit der Dorf- oder Gemeindeoberen zufrieden. Daraus schliesst Daniel Kübler: «Die Einwohner scheinen die Entscheide, die an den Gemeindeversammlungen gefällt werden, als legitim zu erachten – egal, ob sie mitentschieden haben oder nicht.


Finden Sie es gut, wenn Gemeinden ihre Lokaldemokratie mit kleinen Geschenken fördern? Schreiben Sie uns in den Kommentaren!

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