Stimme der Bürger zählt am meisten VOR der Abstimmung
Die vorausschauende Einbindung möglicher Opposition, bevor das Volk an der Urne Ja oder Nein sagt: Dies hält der Politikwissenschaftler Claude Longchamp für die grösste Stärke der direkten Demokratie Schweiz. Nach 30 Jahren Analyse und Kommentieren der Schweizer Politik tritt der Gründer und Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern jetzt kürzer.
swissinfo.ch: Aktuell werden Demokratien weltweit von einem grossen Teil ihrer Bürger zunehmend als Problem wahrgenommen und nicht mehr als Lösung oder als Weg zur Lösung. Was läuft schief?
Claude Longchamp: Demokratie kennt die eine grosse Verheissung: Sie ist der beste Garant für eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Seit dem 19. Jahrhundert ist das nicht nur ein politisches Konzept, sondern auch eines zur Mobilisierung von Bürgern, Unternehmen und Interessen zu Gunsten eines besseren Ganzen.
Sieben Jahre, fast 7000 Beiträge: Das ist die SWI swissinfo.ch-Schatzkammer, die wir seit 2015 mit Inhalten zu unserem SWI-Schwerpunkt Demokratie füllen. In diesem Sommer präsentieren wir Ihnen daraus zehn Evergreens. Denn Demokratie zählt gemeinsam mit der Klimafrage und der Rentensicherung zu den ganz grossen globalen Gesprächsthemen unserer Zeit.
Dieser Zusammenhang ist heute nicht mehr so sicher. Höchste Wachstumsraten finden wir etwa in China, das keine Demokratie ist. Umgekehrt haben sich viele demokratische Staaten darauf eingestellt, dass sie auch in nächster Zeit mit geringem Wirtschaftswachstum auskommen müssen. Das begünstigt ein Klima, in dem Vorwürfe laut werden, dass die Sorgen der einfachen Bürger von der Politik nicht mehr berücksichtigt werden.
Übergeordneten Organisationen wird ihrerseits vorgeworfen, dass sie nicht demokratisch seien. Dadurch ist die Demokratie, die an Nationalstaaten gebunden ist, in die Defensive geraten. Aber bei aller Skepsis, die selbst unter Politologen spürbar ist, ist kein System in Sicht, das Demokratie auf Dauer ablösen könnte.
Zur Schweiz und zu einem Kontrapunkt: der kürzlichen Eröffnung des neuen Gotthard-Eisenbahntunnels. Ein Jahrhundertbauwerk, das von der in- und ausländische Presse explizit auch als Erfolg der direkten Demokratie in der Schweiz gefeiert wurde. Der neue Gotthardtunnel als Lehrstück der direkten Demokratie?
Es gibt tatsächlich einen historisch ganz engen Zusammenhang: Die Entwicklung von der repräsentativen zur direkten Demokratie geschah am Ende des 19. Jahrhunderts und verlief entlang der Frage der Verstaatlichung der privaten Eisenbahnen in der Schweiz. Es gab starke Bedenken, dass das nie funktioniere, wenn das Volk darüber abstimmen könne.
Das Gegenteil trat ein: Die Schweiz hat ihre SBB erhalten und seither viele Male über den Ausbau der Bahninfrastruktur abgestimmt. Und stets Ja dazu gesagt. Man hat aber gelernt, nicht einfach eine planerische Massnahme wild in die Landschaft zu setzen, sondern frühzeitig die Interessen der direkt Betroffenen einzubinden.
Typischerweise wurde am Ende des 19. Jh. der Anwalt der Eisenbahngegner Bundesrat und erhielt als solcher das Infrastrukturdepartement. Damit war die Opposition in die Regierung integriert. Genau das ist das Erfolgsrezept der direkten Demokratie: Sie integriert vorausschauend denkbare Opposition und verhindert mit diesem Mechanismus die mögliche Blockade grosser Vorhaben. Genau dies zeigt uns das jüngste Beispiel am Gotthard.
Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), seit 1999 stärkste Kraft des Landes, will den Volkswillen absolut setzen. Hat der Schweizer Souverän im Zuge des SVP-Höhenfluges an Macht zugelegt?
Will der Souverän das überhaupt? Einige der grossen Projekte der SVP zur Stärkung der direkten Demokratie wurden massiv verworfen: Die Volkswahl des Bundesrates, die wir mit 76% Nein ganz klar ablehnten. Auch drei Viertel sagten Nein zu obligatorischen Volksabstimmungen über Staatsverträge. Es besteht also massiver Gegendruck. Er besagt: «Mit der heutigen direkten Demokratie verfügen wir über ein sehr gutes System, das Probleme besser zu lösen vermag als eine repräsentative Demokratie. Mehr brauchen wir nicht.»
Hier gehts zum Interview, das am 21. Juni 2016 live auf unserer neuen Facebook-Seite «swissinfo.ch auf DeutschExterner Link» stattfand:
Wie mächtig sind die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger tatsächlich?
Faktisch ist ihr Einfluss hoch: Haben wir abgestimmt, ist der Entscheid auf Verfassungsebene bindend. Natürlich gibt es Spielraum bei der Umsetzung in ein Gesetz. Gegenüber klassischen parlamentarischen Demokratien ist das eine erhöhte Einflussmöglichkeit der Bürger. Im Einzelfall mag das für das politische System zwar erschwerend sein. Übers Ganze gesehen stimmen wir Politologen aber überein, dass das zur Befriedung der Schweiz und zur Legitimation des Systems und der Behörden beiträgt. Punkto Vertrauen in die eigene Regierung hat die Schweiz massiv höhere Werte als die meisten anderen Länder.
Der Punkt aber ist ein anderer: Die Behörden mussten lernen, antizipierend mit dem möglichen Volkswillen umzugehen. Nicht die Entscheidung ist also der wichtigste Punkt bei der Einflussnahme, sondern der hypothetische Volksentscheid, der zu einem Projekt MÖGLICH WÄRE. Dies sichert gewissermassen den Einfluss der Bürger auf einer abstrakten Ebene.
Die Antizipierung des Volkswillens halte ich für die grösste Stärke des politischen Systems der Schweiz. Entscheidend ist, dass der Volkswille seitens der Politiker berücksichtigt werden muss, noch bevor wir über eine Vorlage abstimmen können.
Zu den anderen Beteiligten im Entscheidungsprozess: Haben Sie hier in den letzten 30 Jahren markante Gewichtsverschiebungen beobachtet?
Als junger Politikwissenschaftler bin ich wie alle anderen davon ausgegangen, dass wir ein klassisches Konkordanzsystem haben mit den drei Säulen Föderalismus, direkte Demokratie und dem liberalen Korporatismus, bei dem Probleme zur Lösung an Interessensorganisationen delegiert wurden.
Seit der EWR-Abstimmung 1992 sehen wir, dass neue Konflikte dazugekommen sind. Diese lassen sich durch die klassischen Wirtschaftsorganisationen nicht mehr so einfach regeln. Deshalb ist deren Einfluss gesunken, wogegen andere mehr Gewicht erhielten: Die Verwaltung in Europafragen, die Medien bei der Artikulation des Volkswillens sowie die Parteien, insbesondere in den letzten 15 Jahren.
Wie haben sich in dieser Zeit die Kampagnen der Parteien verändert?
Unter den Bedingungen der klassischen Konkordanz in den 1980er-Jahren hatte die Kommission, die im Parlament eine Vorlage vorberaten hat, praktisch den Auftrag, das Abstimmungskomitee zu bilden. Das ist heute, 25 Jahre später, schlicht nicht mehr vorstellbar, denn die Dynamik der öffentlichen Meinungsbildung im Vorfeld von Abstimmungen ist enorm angestiegen. Profitiert davon haben der Bundesrat, der heute die Abstimmungskämpfe führt, und professionalisierte Interessensorganisationen.
Seit drei Jahren sind wir in einer Phase des Umbruchs. Damals gab es ein klares Ja zur Abzocker-Initiative, dies im Widerspruch zur Regierung, Parlament und Wirtschaft, die sich bei den Managerlöhnen eine falsche Richtung entwickelte. Da entstand etwas Neues, eine Art Grassroot-Bewegung, die stark auf personalisierte und glaubwürdige Kommunikation gerade in neuen Medien setzt.
Man könnte dies auch als «digitale Disruption» bezeichnen: Wir sitzen in einem Flugzeug, das durch eine Wolke fliegt. Wir werden so richtig durchgeschüttelt und wissen nicht genau, wie wir da rauskommen werden. Aber das Flugzeug stürzt nicht ab.
Die Volksinitiative feiert in diesem Jahr ihren 125. Geburtstag – seit 1891 ist dieses Volksrecht an sich in der Bundesverfassung verankert. Wie fit ist sie? Ist sie gewappnet für die Digitalisierung der direkten Demokratie, sprich die Stimmabgabe und Unterschriftensammlung per Mausklick?
Ich unterscheide zwei Ebenen. Die erste, die nichts mit Digitalisierung zu tun hat: Es gibt Kritik, dass die Volksinitiative auf alles anwendbar ist. Sie gilt, auch wenn der Text voller Fehler geschrieben ist und sie inhaltlich keinen Sinn macht. Da müssen wir aus staatsrechtlicher Sicht regeln, dass wir den Stimmbürgern keine Abstimmungsvorlagen präsentieren, die sie annehmen und die dann nachträglich für unbrauchbar erklärt werden müssen. Das ist das Dümmste, was man machen kann. Es müssen präventive Regeln her, die besagen, unter welchen Bedingungen eine Initiative gilt, falls sie angenommen wird.
Die zweite Frage ist jene der Unterschriftensammlung. Sie hat sehr viel mit Digitalisierung zu tun. Sie führt zu einer Kontroverse, weil wir sehen, dass eine Unterschriftensammlung im Internet gänzlich neue Möglichkeiten eröffnen. Mit einem guten Thema und einem guten Marketing ist es offenbar möglich, an einem einzigen Tag 10’000 Unterschriften zu sammeln.
Das hiesse, dass eine Volksinitiative in maximal 14 Tagen steht. Das wäre natürlich eine totale Neuerung im Meinungsbildungs-Prozess. Es wird sicherlich zu Diskussionen führen, ob das System der Unterschriftensammlung, das aus dem 19. Jahrhundert datiert, in dieser Form weiter gilt.
Wir sehen: Demokratie muss immer wieder verteidigt und von neuem erkämpft werden. Welches sind die besten Voraussetzungen für eine gut funktionierende und robuste Demokratie?
Man muss auch einem ausländischen Publikum immer wieder erklären, dass die Demokratie auch in der Schweiz erst erkämpft werden musste. Das Bild, dass wir seit 1291 in dieser direktdemokratischen Wiege schaukeln dürfen, ist falsch. Faktisch wurde sie um 1830 vor allem in den liberalen Kantonen erkämpft. Mit der Einführung einer repräsentativen Demokratie auf Bundesebene 1848 waren wir Trendsetter. Es gab stets Bewegungen, die wichtiger und älter als die Parteien waren. Sie hatten und haben sich vor den Parteien für die Demokratisierung, Liberalisierung, soziale Gerechtigkeit, mehr Umweltschutz oder gleiche Rechte für Mann und Frau eingesetzt.
Solche Bewegungen glauben immer wieder an die Möglichkeiten der direkten Demokratie und an den Vorteil der Demokratisierung. Parteien, Verbände und auch die Medien sind wichtig in der Organisation und Durchführung der direkten Demokratie. Aber für die Entstehung von Demokratie und die Demokratisierung und das Bewusstsein darüber sind die sozialen Bewegungen Haupttriebfedern.
Sie helfen, dass wir unser Demokratieverständnis immer wieder erneuern müssen. Dies ist ein wichtiger Prozess, ohne den das Ganze nicht funktionieren würde.
Der Forscher: Sein Spezialgebiet sind die Entscheidungsprozesse im Zusammenspiel von direkter und indirekter, also repräsentativer Demokratie. Zugleich gehört er zu den Gründern der modernen empirischen Politikforschung in der Schweiz.
Der Unternehmer: Longchamp ist Gründer und Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, das er zur Nummer Eins in der privaten Schweizer Politikforschung machte. Seit 1. Mai 2016 führen die beiden neuen Besitzer Urs Bieri (43) und Lukas Golder (42) das Unternehmen, beides langjährige Mitarbeiter. Longchamp bleibt bis 2019 Präsident des Verwaltungsrats.
Der Vermittler: Longchamp kommentiert und analysiert seit vielen Jahren am Schweizer Fernsehen sämtliche nationalen Volksabstimmungen. Dabei erklärt der «Mann mit der Fliege» Zusammenhänge, Hintergründe und zeigt historische Parallelen oder Brüche auf.
Der Stadtwanderer: für interessierte Gruppen bietet der Historiker Longchamp auch Rundgänge in der Stadt Bern an, auf denen er historische Entwicklungen mit der aktuellen politischen Gegenwart verknüpft.
Der Blogger: Longchamp führt zwei beachtete Blogs: «Zoon Politicon – Politikwissenschaft in der Praxis» sowie «Stadtwanderer – Geschichte(n) aus meinem Lebensraum»
Neue Rolle: 2017 schlüpft Longchamp in eine neue Rolle und wird vom Stadtwanderer zum Weltreisenden.
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