Den Schweizern beim Wählen und Zählen genau zugeschaut
Das Erste, das man von anstehenden Wahlen in einem Land sieht, sind die Wahlplakate. Und der erste Eindruck war: Auch nicht besser, als bei uns in Südtirol. Von dort her bin ich angereist, um in Bern unter fachkundiger Führung eines ehemaligen Wahlleiters und von der Staatskanzlei organisiert, hinter den Kulissen die Abwicklung der National- und Ständeratswahl beobachten zu können.
Weshalb dieses Interesse für eine so trockene Angelegenheit? So unattraktiv Wahlen für immer mehr Bürgerinnen und Bürger sind – weil sich, wie viele meinen, damit ohnehin nichts ändert -, ein freieres, ein faireres und besseres Wählen mit mehr Einflussmöglichkeit auf die Zusammensetzung der politischen Vertretung hat doch seinen eigenen Reiz. Für viele jedenfalls, und es weckt Hoffnungen, etwas besser werden zu lassen. Auch in Südtirol, wie man von den Menschen dort gesagt bekommt.
Nicht nur KandidatInnen einer Liste, sondern aus verschiedenen Parteilisten frei auswählen zu können, das wäre schon etwas ganz anderes. Auch die Möglichkeit der Briefwahl für alle ist zweifellos erstrebenswert. Wenn dann auch noch die Regierung direkt gewählt werden könnte und diese nicht mehr, wie im Südtiroler Landtag, mit 8 Stimmen auf 35 über ihre eigenen gesetzlichen Verpflichtungen mitstimmen können soll, dann stösst das schon an die Grenzen von dem, was man sich zu wünschen erlaubt.
Bremse und Gaspedal
All das ist uns aus der Schweiz bekannt – nicht nur in Sachen direkte Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger mit Referendum und Volksinitiative, Bremse und Gaspedal, ein Traumland, sondern auch die Möglichkeiten bei der Wahl der politischen Vertretung, mit denen die Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger um Vieles erhöht sind. Wenn wir bei den Regeln zur Volksabstimmung den Durchblick geschafft haben, so präsentierte sich uns das Regelwerk zu den Wahlen hochkomplex und nicht nachvollziehbar, ohne seine Anwendung erlebt zu haben.
Namen von Kandidatinnen und Kandidaten auf Listen streichen können und durch solche anderer Listen ersetzen, Kandidaten und Kandidatinnen mehrfach wählen können, ja, sich auf einem leeren Wahlzettel sein eigenes Parlament zusammenstellen können – wie konnten diese Möglichkeiten in der Auszählung bewältigt werden, noch dazu in der selben Zeit, in der anderswo unter viel einfacheren Bedingungen die Ergebnisse ermittelt werden? Aber auch: Wie bewältigen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger diese Möglichkeiten, die anderenorts schnell einmal als totale Überforderung abgestempelt werden? Daheim! Also nicht in der Wahlkabine, wie es rundum zum Wahlritual gehört. Wollte man sie in einer Wahlkabine nutzen, dann nähmen die Warteschlangen kein Ende.
Die Schweizer erhalten in einem dicken Umschlag alle Wahlunterlagen, d.h. den Wahlausweis, die Wahlzettel, bestehend aus den Kandidatenlisten der Parteien, Wahlwerbung aller Parteien und Antwortkuvert, drei Wochen vor der Wahl zugeschickt und haben so alle Zeit, ihre Wahl sehr differenziert zu treffen. Man übergibt das Antwortkuvert mit Wahlzettel (in eigenem Kuvert) und Wahlkarte dem Postkasten oder findet vor der Abreise oder bei der Ankunft am Bahnhof ganz unprätentiös in der Ecke eines Infobüros drei MitbürgerInnen, die an einem Tischchen und drei metallenen und plombierten Sammelkästen die Wahlkarte und den Wahlzettel entgegennehmen.
«Standpunkt»
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Wenn die Bürgerpflicht ruft
Die Wahlkarte wird schnell auf die Unterschrift des Wählenden hin überprüft, der Wahlzettel rückseitig abgestempelt und ein jedes in die mit einem Muster gekennzeichnete Urne geworfen. Das geht alles ruckzuck! Das schon am Samstag, den ganzen Tag und noch den halben Sonntag, wie ich es, mit erstaunlichem Andrang und mit Treffpunktcharakter, in einem Schulgebäude erlebe. Dann aber: Wo und wie wird man mit diesen z.B. in Bern über 80’000 Wahlzettel fertig? Wir kommen vor einem ganz neuen Gebäudekomplex mit Sporthallen an und finden dort 300 bis 400 Berner BürgerInnen, die, im Zufallsverfahren ausgewählt, zu ihrer Bürgerpflicht gerufen worden sind, zuvor im Rathaus genauestens instruiert wurden und jetzt darauf warten, dass nach Wahlschluss am Sonntag um 12 Uhr die Wahlurnen eintreffen. Die Bürgergemeinschaft bedankt sich bei ihnen mit einer bunten Auswahl an belegten Brötchen, Getränken und Obst, aber ohne jedes Entgelt.
Wer für die Demokratie so konkret seinen Beitrag zu leisten hat, für den hat sie einen ganz anderen Wert als für jene, die sie sozusagen nachgeworfen bekommen.
Sie sitzen in der riesigen Halle an langen Tischen, die Wahlzettel werden vor ihnen aus der Urne geschüttet und sie beginnen zu bündeln, zu sortieren, zu überprüfen, wo nötig zu berichtigen. Das ganze Verfahren heisst «Wahlzettelbereinigung». Ihre Aufgabe: die Wahlzettel so aufzubereiten, dass in einem anderem Zentrum die Nummern der Namen der Kandidierenden auf den zu je 20 Stück gebündelten, gültigen Wahlzetteln von 80 Bürgerinnen und Bürgern in ein elektronisches Programm eingetippt werden können. Möglichen Fehlern bei der Bereinigung und dann bei der Dateneingabe wird vorgebeugt durch ständige Stichprobenkontrollen. Und sie werden auffindbar gemacht, indem der ganze Bearbeitungsweg eines Wahlzettels nachverfolgbar gemacht wird mit Kennzeichnung der Wahlzettel und der Briefumschläge, in denen sie weitergereicht werden.
Was aber vor allem beeindruckt: 300 bis 400 wahlberechtigte x-beliebige Bürger und Bürgerinnen bewältigen gemeinsam an zwei Tagen unentgeltlich diese Aufgabe. Sie werden im Losverfahren ermittelt, um diese ihre Bürgerpflicht, diese Arbeit einmal in ihrem Leben für die Gemeinschaft zu erledigen. Wer für die Demokratie so konkret seinen Beitrag zu leisten hat, für den hat sie einen ganz anderen Wert als für jene, die sie sozusagen nachgeworfen bekommen. Eine wirksamere Demokratieschule ist kaum denkbar.
Medienspektakel?
Das Medienspektakel im Rathaus, wo auf die Ergebnisse gewartet wird, ist dann wieder ernüchternd. Ein Reigen der Eitelkeiten? Sind es die richtigen Menschen, die zu wählen waren und die uns da vertreten? Fragen, die aufkommen. Ein Politiker antwortet auf die Frage nach der Qualität der politischen Kultur zufrieden. Aber mit dem Zusatz: Je weniger klar die Mehrheitsverhältnisse sind, desto besser sei diese und desto verpflichtender der Dialog.
Fest steht: Besser ist, jene, die für uns entscheiden, auswählen zu können; besser ist, sie so wenig als möglich von den Parteien vorgegeben zu bekommen; besser ist, sie mit dem Einsatz von Initiative und Referendum dazu anzuhalten, konstruktiv zusammenzuarbeiten, um gegenüber dem Souverän bestehen zu können. Glücklich die Schweizer aber, die nicht auf Gedeih und Verderb ihrer politischen Vertretung ausgeliefert sind, die nicht bei Wahlen alles auf eine Karte setzen müssen und ihre Stimme auf Nimmerwiedersehen verlieren, sondern, wenn nötig, einfach und wirksam ins politische Entscheidungsgeschehen eingreifen können! So gesehen sind die 48,4% Beteiligung an diesen Wahlen nicht ein Misstrauensbeweis gegenüber der politischen Vertretung, sondern deren, im Vergleich zu den anderen Ländern, wohltuende Relativierung. Ja, glückliche Schweizer, aber wie viele wissen, was sie an ihrer Demokratie haben?
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