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Es ist Gründerzeit – für einen 27. «Kanton im Netz»

Junge Menschen sitzen vor einem Gebäude in der Stadt und schauen auf ihr Smartphone.
Jung und gewohnt, alles auf dem Smartphone zu erledigen: Sind sie die ersten Bürger eines neuen, 27. und digitalen Kantons der Schweiz?. Keystone

Das Zeitalter der digitalen Demokratie ist angebrochen. Bisher dreht sich die Debatte fast ausschliesslich um E-Voting. Steht die Politik bei der Digitalisierung weiter auf der Bremse, steigen die Chance, dass die Zivilgesellschaft das Heft in die Hand nimmt. Gründen Netzaktivisten bald einen digitalen Kanton?


Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Versetzen wir uns ins Jahr 2019: Die Schweiz stimmt über die Konzernverantwortungs-Initiative ab. Es wird ein knappes Ergebnis erwartet. Am Abstimmungssonntag können erstmals alle Schweizerinnen und Schweizer E-Voting nutzen: Mit der elektronische Stimmabgabe klicken sie im Internet auf Ja oder Nein.

Kurz vor Schliessung der Urnen melden einzelne Gemeinden Unregelmässigkeiten. Zuerst bleiben die Wahllokale länger geöffnet, um die Stimmabgabe noch zu ermöglichen. Dann sind im Fernsehstudio tumultartige Szenen zu beobachten. Die Parteien bezichtigt sich gegenseitig des Wahlbetrugs.

Der Worst Case tritt ein

Erst gegen Mitternacht gibt der Bundesrat Entwarnung: Es handle sich um einen Systemfehler bei der Datenübermittlung. Die Entwarnung kommt zu spät für die Tageszeitungen, die am Montag in fetten Lettern über elektronische Manipulationsversuche titeln.

Ein solches Szenario wäre noch lange nicht der Worst Case. Was, wenn ein Hackerangriff nicht oder erst viel später bemerkt worden wäre? Die Folge wäre ein Vertrauensverlust, der nicht nur E-Voting, sondern die Demokratie als Ganzes beträfe.

Das Buch

Maximilian Stern und Daniel Graf sind die Autoren des Buches «Agenda für eine digitale Demokratie – Chancen, Gefahren, Szenarien»Externer Link, das Anfang Juni 2018 im NZZ Libro Verlag erschienen ist.

Es ist ein Appell für mehr digitale Demokratie, ein Kompass für die politische Umsetzung und eine Anleitung zum Umgang mit Chancen und Risiken der Digitalisierung.

Buchvernissagen finden am 11. Juni in ZürichExterner Link (mit Claude Longchamp und Anja Wyden Guelpa) sowie am 12. Juni in BaselExterner Link (mit Laura Zimmermann und Ronja Jansen) statt.

Expertinnen und Experten warnen seit langem vor grossen Risiken der elektronischen Stimmabgabe. Der Schweizerische Bundeskanzler Walter Thurnherr dagegen betont, es gelte «Sicherheit vor Tempo». Mittlerweile ist im Parlament ein E-Voting-Moratorium hängig und selbst eine Volksinitiative zum Bann ist angekündigt.

Die NSA-Enthüllungen Edward Snowdons

Die Chancen für einen Marschhalt stehen gut, zumal die Digitalisierung der Demokratie zurzeit einen schlechten Ruf hat. In der öffentlichen Debatte steht E-Voting für eine bedrohliche Gemengelage. 

Diese fängt bei den NSA-Enthüllungen von Edward Snowden an, spannt sich über die verworrenen Wege Donald Trumps zur US-Präsidentschaft und endet vorläufig bei einem jüngst erlassenen WhatsApp-Verbot für einzelne Schulklassen in der Schweiz.

Doch der Eisberg der Demokratie treibt nur zu einem kleinen Teil über der Oberfläche der öffentlichen Aufmerksamkeit. Darunter liegen die Arbeit der Verwaltung, der Parlamente, der Gerichte, der Parteien, NGOs und der Wirtschaftsverbände, der Milizpolitik, der Wirtschaft und der Forschung.

In der Diskussion geht vergessen, dass die Demokratie eine komplexe Maschinerie ist. Sie ist – genau wie wir selbst – längst digitalisiert. Parteien führen Datenbanken, Behörden bieten online-Schalter an, Abstimmungskomitees schalten Facebook-Kampagnen, Gemeindepolitiker nutzen Twitter und Bürgerbewegungen sammeln online Unterschriften.

Die Demokratie ist ohne Digitalisierung nicht mehr denkbar. Sie wäre zu langsam, zu teuer, zu ungenau und zu fehleranfällig.

Angst und Ärger sind deshalb schlechte Ratgeber. Die Demokratie ist ohne Digitalisierung nicht mehr denkbar. Sie wäre zu langsam, zu teuer, zu ungenau und zu fehleranfällig.

Diese Entwicklung ist nicht umzukehren, sondern zu begleiten. Er braucht Erfahrung und Wissen, sowohl bei den Verantwortlichen, als auch bei den Medien. Aber natürlich vor allem bei den Bürgerinnen und Bürgern. Neue Ansätze müssen getestet und ausprobiert werden können.

Reich an Demokratie-Laboren

Die Schweiz bietet dafür die besten Voraussetzungen: Kantone und Gemeinden sind erstklassige Demokratielabore. Mit dem Initiativrecht und dem Referendum hat das politische System bewiesen, dass es auf gesellschaftliche Veränderungen mit Innovationen reagieren kann.

Die ersten Anzeichen sind da, dass eine digital-demokratische Aufbruchstimmung Fahrt aufnimmt. Im ganzen Land ist zu beobachten, wie mit neuen Technologien und Werkzeugen experimentiert wird: in Jungparteien, Bewegungen wie Operation Libero, Bottom-up-Kampagnen wie diejenige gegen die Überwachung von Versicherten, Think-Tanks wie das staatslabor und viele weitere zeigen dies insbesondere bei der jungen, technologieaffinen Generation.

Digitale Goldgräberstimmung

Kehren wir wieder zurück zu unserem Blick in die Zukunft vom Anfang des Artikels: Nach dem verhängnisvollen Abstimmungssonntag 2019 legt der Bund alle Projekte im Bereich der digitalen Demokratie auf Eis. 

Die Vollbremsung mobilisiert eine kleine Gruppe von Netzaktivistinnen, IT-Fachleuten und Blockchain-Investoren. Sie schliessen sich zusammen mit dem Ziel, einen neuen, digitalen Kanton zu gründen.

Dieser 27. Kanton der Schweiz bietet seinen Bürgerinnen und Bürgern neue Partizipationsmöglichkeiten und behördliche Dienstleitungen an. Auch die Wirtschaft zeigt Interesse, zumal die Gründung von Startups und Unternehmen in Rekordzeit möglich wäre.

Schweizer E-Staatsbürgerschaft

Innert Wochenfrist wird eine Plattform für diese neue «République Digitale» aufgeschaltet. Über 75’000 Personen registrieren sich online und beteiligen sich an einer verfassunggebenden Abstimmung.

Weltweit zeigen sich Einzelpersonen und Unternehmen begeistert von der Möglichkeit, eine digitale Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben, eine so genannte e-Citizenship zu erwerben. Der neue Kanton schwimmt geradezu im Geld, welches die potentiellen Bürgerinnen und Bürger über Crowdfunding in die «Staatskasse» einzahlen.

Wenige Monate nach der Gründung unterzeichnen Mitglieder des Nationalrats eine parlamentarische Initiative, mit der sie den Bundesrat auffordern, in Verhandlungen mit dem 27. Kanton zu treten. Selbst eine Änderung der Bundesverfassung mit dem Ziel, dem Weg für einen digitalen Kanton frei zu machen, wird nicht mehr ausgeschlossen.

Die Autoren*

Daniel Graf (*1973) hat Geschichte, Volkswirtschaft und Soziologie studiert. Als BeraterExterner Link unterstützt er NGOs, Parteien und Verbände bei Kampagnen. Zuvor war er Mediensprecher bei Amnesty International und Geschäftsführer der Grünen Partei Zürich. Er ist Mitbegründer der Online-Plattform wecollectExterner Link, der Weiterbildung Campaign BootcampExterner Link und des Think+Do Tanks PublicBetaExterner Link.

Maximilian Stern (*1986) hat Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Europarecht studiert. Er ist Mitgründer und ehemaliger Geschäftsführer des Think-Tanks foraus (Forum Aussenpolitik)Externer Link und Mitgründer des staatslaborsExterner Link, eines Think-Tanks für Innovation in der Verwaltung. Als Fellow des Mercator KollegsExterner Link für internationale Angelegenheiten hat er in den USA, im Sudan und in Italien an der Schnittstelle von neuen Technologien und demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten gearbeitet.

Blog der Autoren zum Buch: https://www.digitale-demokratie.ch/Externer Link


Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autoren und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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