Wie der Fluch des Quorums die Demokratie vergiftet
In Italien ist das Referendum von Sonntag über die Ölförderung vor der Küste gescheitert - die nötige Stimmbeteiligung von 50% wurde verfehlt. Wie bei 27 anderen Vorlagen in den letzten 20 Jahren. Öl und Gas können vor der Küste weiter gefördert werden, bis die Quellen versiegt sind. Die Mindestbeteiligungs-Hürde wurde in dieser Spanne nur bei vier Urnengängen erreicht. Höchste Zeit also, dieses Quorum als "Demokratie-Killer" abzuschaffen.
Für den sonnenhungrigen Besucher aus Nordeuropa war der Sonntag des 17. April 2016 ein wundervoller Tag: Das spriessende und blühende Rom schien alle mit seinem romantischen Charme zu umarmen. Menschen sammelten sich vor Gelati-Ständen, die wie die Pflanzen aus fruchtbarer Erde zu schiessen schienen. Mit Temperaturen von an die 30 Grad schien alles perfekt.
Aber doch nicht alles lief so perfekt, wie sich am Ende des Tages herausstellen sollte.
Der Grund, warum ich in Rom weilte, waren aber weder die heisse Frühsommer-Sonne noch das leckere Gelati: Ich war Beobachter der 31. der nationalen Volksabstimmungen, die in den letzten zwei Dekaden stattfanden.
In dieser Zeit unternahm Italien viele Anstrengungen, ein moderneres, stabilieres und effizienters Land zu werden. Ein Land, das nicht nur zurück auf seine grossartige Geschichte blickt, ähnlich wie Griechenland. Ein Land, das auch das Innovationspotenzial hat, das übrige Europa mit grossen Ideen und vielversprechenden Lösungen zu bereichern.
Berlusconi machte es vor
Das Volk stimmte am 17. April darüber ab, ob die Plattformen zur Förderung von Öl und Gas vor der italienischen Küsten betrieben werden können, bis die angezapften Vorkommen leer sind. Italien hat in Umwelt- und Energiefragen eine fortschrittliche Position eingenommen – mit dem Grundsatzentscheid, dass die nicht-erneuerbaren Energien nicht mit Atomkraft ersetzt werden dürfen.
2011 hatte das italienische Volk bereits gegen eine Privatisierung der Wasservorkommen gestimmt. Das Votum garantiert nicht nur öffentlichen Zugang und Nutzung der Wasservorkommen, sondern markierte auch den Anfang vom Ende von Milliardär und Führerfigur Silvio Berlusconi. Es war der 80-jährige Ex-Premier, der das Quorum der Mindestbeteiligung in eine schlagkräftige Waffe gegen die Macht der Bürgerinnen und Bürgern verwandelte. Zuvor war dieses Quorum lediglich ein Element der italienischen Verfassung gewesen.
Berlusconi unternahm als führender Politiker und Besitzer der privaten Fernsehsender Italiens schlicht alles, um das Volk vom Gang an die Urnen abzuhalten. Er überzeugte über 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger, ihre Stimmkraft quasi freiwillig über Bord zu werfen.
Renzi setzt Kampf gegen das Volk fort
Laut der italienischen VerfassungExterner Link muss das Volk über ein Gesetz abstimmen, das die beiden Parlamentskammern verabschiedet haben, wenn dies 500’000 Personen oder fünf Regionalräte fordern. Die Abstimmung darüber ist aber nur gültig, wenn «mindestens die Hälfte der eingetragegen Stimmbürger» an die Urnen geht. Der gutgemeinte Hebel für eine hohe Stimmbeteiligung wurde auf einmal zur Bedrohung für die Demokratie. Nicht nur in Italien, sondern in vielen Ländern.
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An diesem Sonntag waren über 50 Millionen Italienerinnen und Italiener aufgerufen, sich zur erwähnten Ausbeutungs-Dauer von begrenzten Ressourcen zu äussern, die bis zu 22km von der Küste entfernt abgebaut werden dürfen – 47 Mio. Menschen im Land selbst, 3 Mio. Personen im Ausland.
Sobald Premierminister Matteo Renzi (von der Mitte-Links-Partei Partito Democratico) begriff, dass eine Abstimmung über seinen Plan zur Verlängerung der Ölförderdauer unausweichlich war, ergriff er eine Reihe von Schritten, um das Erreichen der 50%-Hürde zu verunmöglichen. Erstens gab es nur einen einzigen Abstimmungstag und nicht deren zwei wie üblich, und eine vorzeitige Stimmabgabe per Brief war nicht möglich.
Zweitens wurde die Ölförderungs-Frage nicht mit anderen Vorlagen verbunden, die im Juni und Oktober dieses Jahres zur Abstimmung stehen. Drittens, und das wog am schwersten, rief Premier Renzi und einige seiner Getreuen die Italiener offen dazu auf, die Abstimmung zu ignorieren resp. nicht daran teilzunehmen.
Solche Aufrufe sind verboten. Doch schon die Vorgänger Renzis haben dieses Gesetz missachtet. Das Resultat: Nein- und Nicht-Stimmende werden für das Resultat zusammengezählt.
Napoleons Trick in der Schweiz – 1802
Der Trick ist aus der Geschichte sowie aus demokratiefeindlichen Autokratien bestens bekannt. Napoleon Bonaparte versuchte 1802, die Schweiz staatlich zu einen – per Volksabstimmung, bei deren Auszählung die Abwesenden einfach als Ja-Sager zu seinem Plan eines Schweizer Einheitsstaates gezählt wurden. Der französische Kaiser scheiterte. Dieses Scheitern wäre überall, wo solche Tricks angewandt werden, wünschenswert.
Als Beobachter von Wahlen und Abstimmungen rund um den Globus habe ich erlebt, wie Beteiligungshürden Weissrussland von einer Hoffnung auf dem Feld der Demokratie anfangs der 1990er-Jahre in eine der letzten Diktaturen Europas verwandelt haben. Und ich sah, wie ein Quorum à la Italien demokratischen Fortschritt in Taiwan nach 2010 massiv einbremste.
Es deprimiert mich zu sehen, wie eine reife Demokratie wie Italien in fast masochistischer Weise wieder und wieder in dieselbe Falle tritt. Der 17. April stellt sogar eine Verletzung des Prinzips der «Geheimhaltung der Abstimmung» dar, indem nur eine der am Entscheid beteiligten Seite aktiv daran teilnahm.
Im Klartext: Das Land gab über 300 Mio. Euro für eine ernsthafte Abstimmung aus, die gleichzeitig von höchsten Repräsentanten der Politik attackiert und hintertrieben wurde.
Rund 20 Millionen Italienerinnen und Italiener mussten zu ihrem Wahlbezirk gehen (andernorts abzustimmen ist verboten!), und dies im Wissen, dass ihre Stimmabgabe höchstwahrscheinlich eh zu keinem zählbaren Resultat führt. Es ist Zeit zum Aufwachen, Bella Italia: Weg mit dem Quorum, das deine potenziell sehr lebendige Demokratie so sehr in Frage stellt!
Die in diesem Artikel ausgedrückten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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