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Weltweit schreiten Städte in direkter Demokratie den Staaten voraus

Rednerpult am Demokratieforum in Taiwan
Die Vertreterinnen und Vertreter der zehn Gründerstädte bei der Unterzeichnung der Magna Carta in Taipeh. Vierte von links: Regula Buchmüller, die Vertreterin Berns. Rednerpult am Demokratieforum in Taiwan

In Taiwans Hauptstadt Taipeh ist eine Internationale Liga der Demokratiestädte von einer Gruppe internationaler Aktivisten, Expertinnen und Lokalpolitikern aus der Taufe gehoben worden. Zu den Gründerstädten gehört Bern. Das Netzwerk zählt rund 80 Städte weltweit.

Demokratie zu den Menschen bringen, damit sie mitbestimmen können bei der Lösung von Problemen, die sie im Alltag direkt betreffen: Das ist der Ansatz des Städte-Netzwerks, in dem sich Stadtpolitikerinnen, Spezialistinnen und Aktivisten austauschen können und sollen.

Gründungsanlass war das 8. Weltforum für Demokratie, welches Anfang Oktober in Taichung und Taipeh stattfand. Gründungsstädte sind neben Bern, Taipei und Taichung in Taiwan auch die finnische Hauptstadt Helsinki, die tschechische Stadt Brünn, Metz in Frankreich, Mexiko City, Tunis, Anyang in Südkorea und Kashiwa in Japan.

Die Grundlage der Liga ist eine sogenannte Magna Charta aus 20 Punkten. Sie dienen als Kompass im Bestreben der Städte, ihren Bewohnern mehr Mitsprache zu gewähren. Dies bedeutet Teilung von Macht und Entscheidungsgewalt mit den Bürgern. 

Wegen Coronavirus auf 2021 verschoben

Aufgrund der Coronakrise haben die Veranstalter Externer Linkdas Global Forum on Modern Direct Democracy, das für Herbst 2020 in Bern geplant war, auf Frühling 2021 verschoben.
Die Weltkonferenz der Volksrechte und Bürgerpartizipation findet neu vom 28. April bis 1. Mai in der Schweizer Hauptstadt statt.
Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried sieht in der Verschiebung auch eine Chance. «Gerade in der Nach-Corona-Zeit wird das Thema direkte Demokratie in vielen Länder von grosser Aktualität sein», heisst es in einer offiziellen MitteilungExterner Link. «Zudem kann die Schweiz als Gastland im nächsten Jahr aufgrund der Corona-Krise sehr praxisorientiert aufzeigen, wie eine moderne direkte Demokratie mit Herausforderungen, wie sie eine Pandemie stellt, politisch und gesellschaftlich umgeht», so von Graffenried. 

Nicht bindend

Die Städte haben sich nicht verpflichtet, alle 20 Punkte umzusetzen, wie der Schweizer Ko-Initiator Bruno Kaufmann in Taipeh sagte.

Bei der Gründungsveranstaltung in Taipei gaben Bürgermeister, Städte-Vertreterinnen und Spezialisten Einblicke in das grosse Set an unterschiedlichsten Feldern, Tools und Formaten von urbaner Bürger-Demokratie.

Ein Schwerpunkt der Gespräche war das Bürgerbudget, der «Dinosaurier» und heutige globale Klassiker von direktdemokratischer Bürgerdemokratie. In Taiwan herrscht eine riesige Bandbreite, wie lokale Vertreter zeigten. Sie reicht von der Gestaltung des Kinderspielplatzes im Stadtpark bis zur Erstellung des jährlichen Budgetplans für das staatliche Gesundheitssystem.

Grenzen der Bürger-Einbindung

«Bürgerbudgets sind oft Türöffner für mehr partizipative Demokratie», sagte Dun-Yuan Chen, Professor für öffentliche Verwaltung an der Nationalen Chengchi Universität in Taipeh. «Aber gerade bei komplexen Aufgaben wie der Mitwirkung beim jährlichen Budgetplan für unser hochstehendes staatliches Gesundheitssystem benötigen die Laien Unterstützung. Nur so können sie in der Expertengruppe mitentscheiden.»

Damit sie dies können, erhalten sie vorgängig ein Training. Es soll helfen, die bestehende Asymmetrie betreffend Expertenwissen im gemischten Gremium etwas abzubauen. Dennoch befürwortet Chen den Einbezug von Bürgern gerade auch bei komplizierten Themen. «Denn nur so entstehen echte Partizipation und demokratische Abstützung von Entscheiden, statt Demokratie nur als Feigenblatt zu benutzen,» sagt er.

Neben der Komplexität von Inhalten wurden auch andere Grenzen aufgedeckt: So pries ein Verantwortlicher der Stadtverwaltung Taipehs eingehend das Bürgerbudget. Also jener Posten im städtischen Budget, bei dem Einwohnerinnen und Einwohner über die Verwendung mitbestimmen können.

Karte mit Taiwan, China und Hong Kong
Kai Reusser / swissinfo.ch

Auf die Frage des Schweizers Bruno Kaufmann, der die internationale Liga der Demokratiestädte zusammen mit dem Amerikaner Joe Mathews initiierte, musste der Mann kleinlaut eingestehen, dass die Summe «noch nicht so gross» sei: weniger als eine Million Taiwan Dollars, umgerechnet rund 30’000 Franken. Angesichts der rund 2,7 Millionen Einwohner besteht in der Hauptstadt also noch viel Luft nach oben. 

Dazu kommt, dass die Bürger in Taipeh nur Projektvorschläge machen können. Der Entscheid, was umgesetzt wird, liegt letztlich bei der Behörde.

Kinder an die Macht

Dennoch hatte der Vertreter Taipehs bald wieder Boden unter den Füssen. Aus dem Publikum nach dem schönsten Beispiel von Bürgerdemokratie gefragt, sagte er: «Eine Gruppe von Müttern trug zusammen, was ein bestmöglicher Spielplatz für ihre Kinder ausmacht. Die Stadt hat die Initiative der Mütter in ihre offizielle Politik aufgenommen. Heute gibt es bei der Behörde eine Gruppe, die sich um kindergerechte Parks und gute Spielplätze kümmert.»

Mitinitiant Mathews sprach von einem Beispiel in seinem amerikanischen Heimatstaat Kalifornien, wo noch einen Schritt weiter gegangen wurde. «Der Bundesstaat beschloss, die öffentlichen Spielplätze zu erneuern. Die Behörden luden dazu alle Kinder ein und sie konnten über drei verschiedene Konzepte abstimmen», sagte Mathews. Ob öffentliche Plätze, Quartieraktivitäten, Kultur, usw.: Kalifornien habe direkte Demokratie auf alle Lebensbereiche ausgeweitet. 

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Direkte Demokratie gibt Vertrauen zurück

Das Lokale, die Lösung von unmittelbaren Alltagsproblemen, sei eine ideale Basis für partizipative Prozesse direkt mit den Bürgern, sagte Caroline Vernaillen, Global Community Manager von Democracy International, einer NGO, die das Forum mitorganisiert hat.

Einerseits könnten die dabei gemachten Erfahrungen zur Stärkung der direkten Beteiligung auf höheren Ebenen inspirieren. Andererseits könnten die Städte mit Beteiligungsprogrammen beitragen, das schwindende Vertrauen von Bürgern in die Politik, Medien und die Demokratie zurückzugewinnen.

So schön der Ansatz von Vernaillen und den anderen tönen mag: Bürgerdemokratie ist weit davon entfernt, von Politikern und Behörden von Städten rund um den Globus mit offenen Armen willkommen geheissen zu werden. «Partizipative Politik erfordert Opfer von Politik und Behörden», sagte Yun-Hsiang Su, Professor für Rechtswissenschaften an der National Universität Taipeh.

Su’s Aussage, von Höflichkeit befreit, lautet im Klartext: Politiker und die Verwaltung teilen ihre Macht in der Regel nur ungerne freiwillig mit den Bürgerinnen und Bürgern. Abgesehen von den Wahlen alle vier Jahre sollen diese die Politik geflissentlich ihnen, also den Profis überlassen.

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