Wie die Cholera in Zürich die direkte Demokratie befeuerte
Im Sommer 1867 breitete sich in Zürich die Cholera aus. Als sie im Herbst ausgemerzt war, schuf der Kanton "das demokratischste politische System der Welt".
Nachdem der erste Cholera-Fall im Juli 1867 festgestellt worden war, breitete sich die Krankheit in Zürich schnell aus. Vor allem in den ärmeren und schmutzigeren Vierteln der Stadt, schreibt der Schweizer Medizinhistoriker Flurin CondrauExterner Link.
Die Gesundheitsbehörden – damals noch in ihren Anfängen – unternahmen die bekannten Schritte: Häuser mit Infizierten wurden unter Quarantäne gestellt und Gesunde strikt von Kranken getrennt.
Derweil beäugten die Bürgerinnen und Bürger die Anstrengungen misstrauisch. Und als die Todesrate zunahm, liessen sie sich auch von einer unheimlichen Atmosphäre anstecken, wie der Landbote aus Winterthur am 28. September 1867 schrieb.
«Wenn man in den letzten Wochen nicht in Zürich war, kann man sich nicht wirklich vorstellen, wie es ist, sowohl auf der Strasse als auch im Geisthe […] Die Auswirkungen der schrecklichen Epidemie und der Druck der plötzlichen Einsamkeith lasten schwer auf der Bevölkerung, und diejenigen, die seit Wochen in dieser Situation leben, kommen nicht umhin, einen solch düsteren Eindruck zu gewinnen.»
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Und trotz der Aufforderungen der Behörden zu Solidarität und Gemeinschaft «sahen viele Mitglieder der wohlhabenderen Schichten die Dinge ganz anders und flohen aus der Stadt», schreibt Condrau.
Dann, Ende Oktober, war es vorbei: 481 Menschen waren gestorben, und die Krankheit hatte sich nicht über die Stadtgrenzen hinaus verbreitet, geschwiege denn im Kanton oder in der Schweiz.
Ein Erfolg? Zumindest nicht für die Behörden. Die Epidemie erwies sich als Katalysator für den Sturz des liberalen Regimes – verkörpert durch die omnipotente Figur des Unternehmers Alfred Escher – das jahrzehntelang Zürich regiert hatte.
Stattdessen forderten die Bürger nun mehr Demokratie: Zuerst in Zürich, wo 1869 eine neue Verfassung verabschiedet wurde (die bis 2005 Bestand hatte), dann in weiten Teilen des ganzen Landes, als andere Kantone sich von den Vorgängen in Zürich inspirieren liessen.
1874 wurde das Referendumsrecht als Kontrollinstrument für parlamentarische Gesetze in die schweizerische Verfassung aufgenommen; 1891 kam das Recht auf Verfassungsinitiativen aus dem Volk hinzu.
Stresstest für die Gesellschaft
Wie immer stellt sich die schwierige historische Frage, inwieweit das Ereignis direkt zu einem politischen Wandel geführt hat oder ob vorher bestehende Spannungen nur auf einen Funken gewartet haben.
Für Condrau, der an der Universität Zürich lehrt, herrschten 1867 «genau die richtigen Bedingungen» für einen Wechsel. Er reiht die Epidemie ein in ein Dreiergespann entscheidender Tendenzen im Zürich der 1860er-Jahre. Die anderen beiden waren ein wirtschaftlicher Abschwung und die aufkeimende demokratische Bewegung, die bereits begonnen hatte, die elitäre politische Ordnung in Frage zu stellen.
Im besten Fall würden sich soziale, wirtschaftliche und politische Aspekte gegenseitig beeinflussen, sagt Condrau. Aber eine Krise – in diesem Fall eine Epidemie – sei stets ein «Stresstest» für die Gesellschaft. Denn plötzlich werde aufgedeckt, wo Schwächen und Ungleichheiten lägen, und alte Werte und Regeln, die scheinbar keine Antworten darauf geben könnten, würden in Frage gestellt.
Daraus könnten neue Bewegungen Nutzen ziehen. Da die Cholera in diesem Fall die Arbeiterquartiere unverhältnismässig stark getroffen hatte, sei die Epidemie in den Augen der Bevölkerung natürlich nicht nur als eine Gesundheitskrise, sondern als soziale Krise wahrgenommen worden.
Die demokratische Bewegung habe dies «sofort» mit ihren politischen Reformbemühungen verbunden und sei erfolgreich darin gewesen, Unterstützung und Unterschriften für die Verfassungsreform zu sammeln.
Blick hinter die Kulissen
Andreas Gross, Politikwissenschaftler und langjähriger Schweizer Parlamentarier, beschreibt die Epidemie als «sozialen Indikator». Weil die ärmere Bevölkerungsschicht eindeutig stärker betroffen war, habe die Krise die Lüge enthüllt, die im Zentrum des Diskurses der regierenden Zürcher Liberalen gestanden habe: Die Stadt war nicht die allgemein boomende Metropole des Wohlstands und des allgemeinen Wohlergehens, für die sie sich gehalten hatte.
Gross zitiert einen weiteren Bericht aus dem Landboten: «Die Cholera hat dazu geführt, dass tiefere Blicke in unser Volksleben gethan werden konnten. Man hat bei Gelegenheit der Cholera die Entdeckung gemacht, dass viele unserer Mitbürger so gestellt sind, dass es ihnen beim besten Willen unmöglich ist, sich ordentlich zu ernähren […] Ist der Arbeiter wirklich dazu da, mit aller Anstrengung seinen Lebensbedarf nur theilweise zu erwerben, um für den übrigen Theil auf die Mildthätigkeit angewiesen zu sein? Haben sie keine Ahnung davon, dass solche Bedingungen eine deprimierende und beunruhigende Wirkung auf das Ehrgefühl und die Moral des Arbeitnehmers haben müssen?»
Während generell ein Boom zu verzeichnen gewesen sei, hätten die unteren Schichten wenig daran teilhaben können. Die Liberalen unter Escher hätten Geld in Infrastruktur und Industrie gepumpt, aber dies sei von oben nach unten geschehen, und die Gewinne seien nicht annähernd gleichmässig verteilt worden, sagt Gross.
«Sie vernachlässigten das Volk, kümmerten sich nicht um dessen Bedürfnisse, und sie schufen kein gerechtes Steuersystem. Sie kümmerten sich nur um die obere Mittelschicht. Die Cholera zeigte die wirklichen Bedürfnisse der Menschen und wie viele von ihnen noch immer im Elend steckten», so Gross weiter.
Weltweite Herausforderung
Die noch schwierigere Frage aber ist, wie man diese Lehren in der heutigen Krise anwenden kann. Für Gross und Condrau sind die globalen Auswirkungen von Covid-19 noch nicht klar. Erzählung und Wirkung solcher Epidemien seien jeweils erst zu erkennen, wenn sie durchgestanden sind.
Aus demokratischer Sicht gibt Gross jedoch eine Prognose ab: Die Aussetzung von Unterschriftensammlungen und Volksabstimmungen in der Schweiz werde dem System langfristig keinen Schaden zufügen, ist er überzeugt.
«Heute sind sich die Menschen ihrer politischen Rechte viel bewusster und reagieren sensibler als in der Vergangenheit», sagt er. Sie hüteten sich davor, ihre demokratischen Freiheiten zu lange aufzugeben.
Genau dies war in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen:
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Bei «versteckten Problemen» allerdings, die solche Krisen aufdecken könnten, finde man Gruppen – zum Beispiel Obdachlose oder Asylsuchende –, deren Verletzlichkeit aufgedeckt werde, sagt Gross. Man könne auch die eher nicht greifbare Lektion lernen über die Auswirkungen, die ein solcher Lockdown «auf die Seele» haben werde.
Insgesamt aber könnte die Covid-19-Krise auf globaler Ebene den Menschen die Augen für Ungleichheit und Elend öffnen, wie das die Epidemie von 1867 in Zürich getan habe: «In Ländern wie Indien, Bangladesch, Ecuador oder dem Kongo könnten Millionen sterben, Menschen, die in Europa überlebt hätten. Das ist ein Skandal, für den eine menschliche Gesellschaft keine Verantwortung übernehmen kann», sagt Gross.
Condrau ergänzt, dass die gute Verfassung des hiesigen Gesundheitssystems und der Wirtschaft dem Land bessere Chancen als den meisten anderen auf den Weg gebe, um den aktuellen Stresstest ohne tiefgreifende Risse überstehen zu können.
Er stimmt zu, dass die grossen Auswirkungen anderswo zu sehen sein würden. So wie die Krise von 1867 in Zürich ein unterdurchschnittliches öffentliches Gesundheitssystem aufgedeckt habe, würden viele Länder jetzt feststellen, dass ihre Krankenhäuser für grosse Epidemien nicht bereit seien.
Hinzu komme, dass Nationen mit schwächeren Volkswirtschaften – Condrau erwähnt Spanien und Italien – bis zum Äussersten gefordert würden.
Über einzelne Städte oder Länder hinaus sieht er die wichtigste Lehre aus der aktuellen Pandemie – im Gegensatz zur Epidemie von 1867 – in der «globalen Dimension». Man stelle fest, dass dies «nicht auf nationaler Ebene bewältigt werden kann, sodass die Rolle internationaler Organisationen wie der Weltgesundheits-Organisation und der Europäischen Union immer wichtiger wird».
Nachdem solche Gremien jahrelang vernachlässigt worden seien, würden wir jetzt wieder die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit erkennen, sagt Condrau. Das heisst, falls solche Institutionen selber den Stresstest überleben.
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