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In Bundesratswahlen steckt ein Hauch Oligarchie

Claude Longchamp, Politikwissenschafter und Historiker

Bundesratswahlen enthalten ein Element, das wir von Rotary Clubs her kennen: Ein innerer Zirkel ergänzt sich selbst, nach eigenen, festgeschriebenen Regeln. Man nennt das Kooptation. Noch funktioniert dieses Prinzip. Historisch ist es aber überholt.

Wählen bedeutet zuallererst auswählen. Das setzt im Minimum zwei Vorschläge voraus. Denn nur dies erlaubt es, sich für und gegen etwas zu entscheiden.

In Demokratien setzt man Wählen häufig mit Volkswahlen gleich. Daneben gibt es Wahlen durch Gremien, die ihrerseits vom Volk gewählt wurden.

«Die Volkswahl von Bundesräten ist in der Schweiz nicht gewollt.»

In der Schweiz ist das seit 1848 so. Der Nationalrat ging seither immer aus einer Volkswahl hervor. Beim Ständerat war es lange üblich, dass er von den Kantonsparlamenten bestimmt wurde. Heute ist das nicht mehr der Fall, auch hier wählt das Volk.

Etwas anderes ist Kooptation. Der Begriff bezeichnet ein Verfahren, das nicht aus der Demokratie stammt. Er beschreibt die Selbstergänzung von Gremien, was etwas Oligarchisches an sich hat. Fakultäten an Universitäten funktionieren so. Auch die Rotary Clubs oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz folgen dieser Logik. 

Claude Longchamp zählt zu den erfahrensten und angesehensten Politanalysten der Schweiz.

Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bern, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF. 

Wenn die bisherigen Mitglieder eines Gremiums über die Ergänzung entscheiden, sichert dies die Kontinuität. Dafür leidet die Diversität. Und es fehlt die demokratische Legitimation.

Einst mussten sich Bundesräte dem Volk stellen

Bei der Gründung des Schweizer Bundesstaats musste die Verfassungskommission zwei schwerwiegende Fragen beantworten: Wie soll das Verhältnis von Nation und Kantonen aussehen? Und wie soll der Bundesrat gewählt werden?

Zweimal fand man einen Kompromiss: Der erste war der Bundesstaat, kein Bund souveräner Kantone wie in der Geschichte, aber auch kein Einheitsstaat wie in Frankreich.

Der zweite Kompromiss ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Kommission lehnte zwar die Volkswahl der Bundesräte knapp ab. Es entwickelte sich aber keine reine Parlamentswahl. 

Nach drei Jahren war die erste Amtszeit der Schweizer Regierung zu Ende. Wer wieder Bundesrat werden wollte, musste sich damals einer Komplimentswahl stellen. Das bedeutete, er musste in seinem Wahlkreis wieder als Nationalratskandidat antreten. Wurde er gewählt, hatte er das nötige Kompliment erhalten, um weiter als Bundesrat amtieren zu dürfen. Oberstes Ziel hinter diesem Prozedere war, die Bildung abgehobener Eliten zu verhindern.

Es versteht sich, dass dies den amtierenden Bundesräten missfiel.  Wilhelm Naeff, 27 Jahre Vertreter der FDP St. Gallen im Bundesrat, verzichtete 1869 als erster auf eine Komplimentswahl – und wurde trotzdem als Bundesrat wiedergewählt.  Dreissig Jahre später gab es erstmals kein Regierungsmitglied mehr, das diese Form der Legitimation eingehalten hätte. 

Parlamentswahl mit vielen Bremsen

Seither gibt es zwei Auffassungen zu Bundesratswahlen: die einzig richtige sei die Volkswahl des Bundesrats, sagen die einen; hinreichend sei die Parlamentswahl, die andern. Über Ersteres wurde mehrfach in Volksabstimmungen entschieden: 1900, 1939 und 2013 sagte der Souverän dreimal nein. Zweites hat sich damit durchgesetzt – jedoch nicht immer mit den gleichen Spielregeln.

1891 kooptierte die FDP mit der Wahl eines Katholisch-Konservativen (heute CVP) erstmals eine Partei in den bis anhin rein freisinnigen Bundesrat. 1929 kam die BGB (heute SVP) zu ihrem ersten Sitz, und 1943 war dies auch bei der SP erstmals der Fall.

Das Vorgehen war numerisch jeweils nicht zwingend, entsprach aber dem Kalkül der Staatsgründerpartei FDP, ihre politische Vormachstellung unter parteipolitisch veränderten Umständen zu sichern.

«Und noch einen gewichtigen Nachteil hat das Vorgehen: Es ist kaum in der Lage, auf Veränderungen in der Gesellschaft zu reagieren.»

1959 entglitt der FDP erstmals eine Bundesratswahl. KVP und SP verbündeten sich, um die freisinnige Mehrheitzu brechen. Die SP war wollte zwei Sitze im Bundesrat. Es kam zur Kampfwahl, wie die Geschichtsbücher schreiben. Es war aber die erste Wahl, bei der sich eine Auswahl jenseits der FDP durchsetzte.

Vor- und Nachteile der Kooptation

Bei Bundesratswahlen sind bis heute Kooptations- und Demokratie-Prinzipien vermischt. Das Parlament wählt demokratisch, aber nach Regeln, die aus der Kooptation stammen.

Selbstergänzung sichert die viel gerühmte Konstanz, integriert politikrelevante Parteien und Gruppen, und ist in der Lage, auf personeller Ebene Personen mit gesuchten Eigenschaften zu begünstigen.

Eingeschränkt wird dadurch jedoch die Auswahl, insbesondere auch die Frage der Eignung von Kandidaten. Und noch einen gewichtigen Nachteil hat das Vorgehen: Es ist kaum in der Lage, auf politische Veränderungen im Parlament oder in der Gesellschaft zu reagieren. Dies würde das Demokratie-Prinzip schneller und besser lösen. 

In einer Mehrheitsdemokratie würde die Parlamentsmehrheit alleine entscheiden. Auch in einer Konsensdemokratie ist das die Aufgabe der Parlamentsmehrheit, allerdings unter Wahrung der proportionalen Verteilung im National- und/oder Ständerat.

Nur ist dieses Prinzip heute unterminiert, weil die bisherigen Regierungsparteien, selbst wenn sie, wie 2019, alle an Wählenden verlieren, immer noch eine ausreichend komfortable Mehrheit haben, um sich zu bestätigen. Eine Änderung der Regierung können die Wählenden nicht erzwingen.

Eine Wahl nach dem Mikado-Prinzip

So können sie Kriterien der Selbstergänzung durchsetzen. Dazu gehört, dass Bisherige nicht ohne Not abgewählt werden sollen. Und dass die Bisherigen den Zeitpunkt ihres Rücktritts selber bestimmen, selbst wenn in der Bundesverfassung etwas anderes steht.

Das schränkt die Wahlfreiheit der Wahlbehörde ein, bis die Wahl ein reines Ritual wird.  

Bundesratswahlen 2018: Kooptations- und Demokratie-Prinzipien vermischt. Keystone

Denn das Wahlverfahren für den Bundesrat funktioniert heute nach dem Mikado-Prinzip: Wer sich als erster bewegt, hat verloren. Das hat zur Folge, dass man aus Gründen der Machtsicherung unsensibel wird für das, was sich ausserhalb der Regierung verändert.

Die Spannung wird bleiben

Meine Prognose für die Bundesratswahlen 2019 ist, dass sich am 11. Dezember 2019 nichts an der Zusammensetzung des Bundesrats ändert. Eigentlich ist klar, dass die Kooptationsprinzipien über die Demokratieprinzipien obsiegen werden.

Diese Vorhersage bedeutet aber nicht, dass das Problem in einer Woche ad acta gelegt sein wird. Vielmehr sind fortgesetzte Spannungen zwischen Parlamentswahl und Bundesratswahl zu erwarten. Sie dürften sogar das grosse Thema der neuen Legislaturperiode sein.

Und sie werden sich bei einer der vor 2023 wahrscheinlichen Ersatzwahlen in den Bundesrat entladen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken. 

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