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«Von bedenkenloser Zustimmung zu schriller Ablehnung»

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Bundeskanzler Walter Thurnherr. © Keystone / Peter Schneider

Beim E-Voting ist die Schweiz Deutschland trotz aktueller Rückschläge um Längen voraus. Das liegt auch an den unterschiedlichen Demokratieformen – und am Deutschen Bundesverfassungsgericht.

Seit im März Mängel im Quellcode des E-Voting-Systems der Post entdeckt wurden, wächst in der Schweiz die Kritik an der elektronischen Abstimmung. «Wir brauchen Zeit», bekräftigte Bundeskanzler Walter Thurnherr in Berlin. 

Doch er ist von der Zukunft des E-Voting überzeugt, so machte er auf einer Deutsch-Schweizer Diskussion über Erfahrungen mit der digitalen Demokratie deutlich. Eingeladen dazu hatte die Eidgenössische Botschaft gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Von Anfang an sei beim Thema elektronische Wahlen das Thema Sicherheit vor Tempo gestellt worden, betonte der «8. Bundesrat» in seiner Keynote. 

In der derzeitigen Aufregung über die Manipulierbarkeit beim E-Voting rät er zu mehr Gelassenheit. «Wir lassen kein System zu, das unsere strengen Vorgaben nicht erfüllt», betonte der studierte Physiker und plädierte zugleich für Offenheit gegenüber Neuerungen. «Die Schweizer Demokratie hat sich seit ihrer Gründung verändert und sie wird es weiter tun.»

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«Entscheidend ist, was man daraus macht»

Demokratie im digitalen Zeitalter bedeutet jedoch mehr, als vom heimischen Computer aus über ein Referendum oder eine Initiative abzustimmen. Durch die Digitalisierung haben sich auch politische Meinungsbildungsprozesse massiv verändert: Soziale Medien und Online-Angebote ergänzen und verdrängen zuweilen die klassischen Informationskanäle und das Abstimmungsbüchlein in der Schweiz. 

Doch können Wählerinnen und Wähler in dieser Informationsflut Wahres vom Falschen, Nützliches vom Manipulativem trennen? Angst sei fehl am Platz, betonte der Schweizer Botschafter in Berlin Paul Seger: «Digitalisierung ist ein Instrument. Entscheidend ist, was man daraus macht.»

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Paul Seger, Schweizer Botschafter in Berlin. © Keystone / Christian Beutler

Zwei Länder, zwei unterschiedliche Formen der Demokratie, eine parlamentarische in Deutschland, die Entscheidungen an Abgeordnete im Landtag- oder Bundestag delegiert, eine direkte in der Schweiz, in der die Macht direkt vom Volk ausgeht. In der Natur dieses Systems liegt, dass die Eidgenossen weit häufiger abstimmen als ihre deutschen Nachbarn. 

Hieraus eröffnet sich ein fruchtbares Testfeld für das E-Voting: 300 digitale Test-Abstimmungen wurden in der Schweiz auf Kantonsebene bereits seit 2004 erfolgreich durchgeführt. Insbesondere Auslandschweizer drängen auf die reguläre Einführung einer E-Voting-Option. Mit der Post versendete Wahlunterlagen kommen bei ihnen in entlegenen Teilen der Welt häufig zu spät oder überhaupt nicht an.

Kein E-Voting in Deutschland

In Deutschland erklärte das Bundesverfassungsgericht hingegen bereits 2009 elektronische Wahlverfahren für unzulässig, da die Auszählungen anders als bei realen Stimmzetteln für die Wähler nicht überprüfbar seien. Damals ging es noch um den Einsatz von Wahlcomputern in Wahllokalen. Von digitalen Abstimmungen vom heimischen Sofa aus ist Deutschland noch weiter entfernt. Die Schweiz verfügt im E-Voting also über einen beträchtlichen Vorsprung.

Sicherheitslücke: E-Voting-Projekt auf Eis

3000 Hacker aus der ganzen Welt testeten vom 25. Februar bis 24. März eine Weiterentwicklung des E-Voting-System der Schweizer Post auf Schwachstellen. Während dieses sogenannten Intrusionstests entdeckten die Hacker einen kritischen Fehler: Den Stimmenden ist es nicht möglich zu überprüfen, ob das System ihre Stimme korrekt registriert hat. Die Schweizer Bundeskanzlei will nun eine Standortbestimmung vornehmen. Sie hatte eigentlich zum Ziel, bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019 in zwei Dritteln der Kantone E-Voting anzubieten. Dieser Plan liegt nun erst einmal auf Eis.

Doch mit der entdeckten Sicherheitslücke hat sich die Stimmung im Lande gedreht. Walter Thurnherr beobachtet einen Wandel «von bedenkenloser Zustimmung zu schriller Ablehnung». Während die Sicherheitsbedenken durch weitere Nachbesserungen aus der Welt zu schaffen seien, bereiten ihm Mentalitäts- und Diskussionsveränderungen im digitalen Raum weit mehr Sorge. Die sozialen Medien seien zu «Austobungsräumen» geworden, zugleich sinke die Pressevielfalt in der Schweiz.

Dennoch sei die Schweiz besser als andere Länder für die digitale Demokratie gerüstet.  Das auf Ausgleich setzende Konkordanzprinzip lehrt, Rücksicht auf Minderheiten zu nehmen, Argumente des Gegners gelten zu lassen, und Siegesgesten zu vermeiden. Diese Grundsätze helfen auch beim fairen Umgang im digitalen Raum.

Die Schweiz könne daher das Thema E-Voting gelassen angehen, bekräftigte auch die Juristin Nadja Braun Binder von der Universität Zürich. In 150 Jahre direkter Demokratie hätten die Eidgenossen gelernt, sich auf der Basis einer Flut von Informationen ein Urteil zu bilden. 

Die Schweizer Politik traue ihren Bürgerinnen und Bürgern wiederum zu, sich nicht von digitalen Medien und Diskussionsräumen vereinnahmen zu lassen. Während sie in der Europäischen Union eine «grosse Angst» vor dem Einfluss der Digitalisierung auf die politische Meinungsbildung spüre, diskutiere die Schweiz vornehmlich die Datensicherheit beim E-Voting.

Facebooks Geheimnisse

«Deutschland und die Schweiz kommen aus ganz unterschiedlichen Situationen und Referenzrahmen», bestätigte Anne Christmann, die für die Grünen im Deutschen Bundestag sitzt und zuvor einige Jahre in der Schweiz gelebt hat. 

Diese Unterschiede prägen auch die Debatten in beiden Ländern. E-Voting ist in Deutschland seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Thema mehr. «Seither ist die Debatte darüber etwas eingeschlafen», sagt Anne Christman. Statt zu wählen können deutsche Bürgerinnen und Bürger nun zumindest digital ihre Meinung und Expertise in die komplizierten und langwierigen Gesetzgebungsverfahren einspeisen. «Da gibt es erheblich mehr Raum als früher», so die Grüne.

In der öffentlichen Wahrnehmung fokussiert sich die deutsche Debatte hingegen auf die vermeintlichen Gefahren von Fake News und die Rolle sozialer Medien wie Facebook auf politische Meinungsbildungsprozesse. Nicht ohne Grund. 

Über deren Einfluss auf Wahlentscheidungen wisse man noch viel zu wenig, räumte Fabrizo Gilardi von der Universität Zürich ein. Facebook gewähre keinen Einblick in der Erstellung seiner Algorithmen – die letztendlich bestimmen, welche Informationen und Wahlwerbungen die einzelnen Nutzer zu sehen bekommen. «Wir wissen nicht, wer was sieht», kritisiert er und nannte den Mangel an Transparenz und Daten für die Forschung extrem unbefriedigend.

Ohne Frage setzt die rasante Entwicklung des digitalen Raums die Politik unter Zugzwang – sowohl was die Inhalte als auch die Datensicherheit betreffend. Walter Thurnherr empfahl, sich nicht treiben zu lassen, sondern das Tempo etwas zu drosseln. «Wir müssen gemeinsam überlegen, welche Prozesse wir bewusst langsam gestalten wollen.»

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